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​BuchBar


​Hier ging es ursprünglich um ein Experiment.

Leider war es ein Fehlschlag,
weil der Aufbau und die Entstehung des Buchs
nur schwer und mit viel Mühe nachzuvollziehen war.

Hier nun das halbfertige Buch,
das ich mit der nötigen Distanz im Jahre 2021
nochmals überarbeiten werde.

January 08th, 2021

2/3/2018

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Bild
B





























Bild von Thomas Woodtli, woodtli@bildmanufaktur.ch



Urs Spielmann


​
​Aus der thrillernden BuchBar
 

Gefangen in der Seifenblase
 ... oder das vermaledeite sweet-and-sour Leben 
eines DenkBaren Psychopathen




Zum Verständnis
 

Für alle Leser erkennbar beabsichtigt der Text keinesfalls eine Schilderung von realen Personen und Ereignissen, sondern kreiert hinter der an die Basisgeschichte leicht angelehnten Handlung eine zweite überzeichnete, wirklichkeitsfremde und verzerrte poetische Ebene. Der Autor spielt literarisch öfters ein Spiel in der Welt der dunklen Gefühle und der morbiden Phantasien seiner Protagonisten. Er lässt bewusst Grenzen verschwinden.



Zu den Einschärfungen
 

.. oder wie die Jugend den Protagonisten geprägt hat



Die frühjugendlichen Jahre
 

Erinnerungen an die Babyzeit hat Sebastian Kleiber nicht. Die Bilder seiner frühkindlichen Zeit malte er sich aus von den Fotos aus den elterlichen Alben. Blondes, lockiges Kerlchen, mit vifen Augen und herzigem, putzigem Näschen und einem etwas dünnlippigem Mund. Harmloses Lächeln.
 
Man ahnt es: Sebaschtli begann sich schon mit drei Jahren auf seine spätere Ministrantenlaufbahn vorzubereiten. Er wusste damals noch nicht, dass er kein Wunschkind war. Zehn Jahre nach seinem älteren Bruder kam es beim immer seltener werdenden Tête-à-tête seiner Eltern zu einem nicht einkalkulierten Betriebsunfall. Neun Monate später erblickte der kleine Sebastian als verspätetes Geschenk Gottes  die vermeintlich heile Welt.
 
Der frischgebackene Vater, der nach dem Nachtdienst mit seinen Kollegen das Ereignis schon mal gebührend vorgefeiert hatte, kam gegen 10 Uhr morgens bestens gelaunt zu seiner Liebsten ins Geburtshaus. Mit dabei ein grosser Blumenstrauss, den er auf dem Weg in irgendeinem fremden Garten liebevoll zusammengestellt hatte.
 
Man konnte es ihm nicht wirklich übelnehmen. Als Landjäger war er es gewohnt, von Zeit zu Zeit in die Rolle des Übeltäters zu schlüpfen und als Sportschütze outete er sich, als er beim ersten Kuss aufs Fudi des neuen Erdenbürgers gleich vom goldenen Schuss redete.
 
 
Ein Rohdiamant?
 

Das kleine Kerlchen entwickelte sich prächtig und ganz im Sinne seiner Eltern. Die autoritäre Erziehung griff. Der Polizistensohn war auf dem Weg zum Musterbürger. Er war meistens der Klassenbeste und grüsste Jede und Jeden, der ihm tagsüber begegnete. Schon bald war er nicht mehr der Sebastian, sondern bis etwa zum 10. Lebensjahr der „Grüezi“ und später während seiner ganzen Schulzeit als Polizistensohn der „Wäckerli“, getreu einer früheren Hörspielreihe im Radio Beromünster. 

Als „Grüezi“ diente er im Kloster Winterswil, wo er auf einem Ministrantenausflug in die nahe Umgebung auch das Rauchen erlernte, zuerst mit „Nielen“, später mit richtigen Zigaretten, den Arlette Doppelfilter. Und wie es sich geziemt, kotzte er dann abends dank dem Doppelfilter auch gleichzwei Mal einen Kübel voll. Am nächsten Morgen freute er sich, um 06.00 Uhr nicht an der Frühmesse ministrieren und nicht in die Schule zu müssen. Er räkelte sich wie immer an seinen Krankheitstagen im warmen Bett, genoss die Fürsorge seiner Mutter und verschlang genüsslich das Weggli und die Banane, die sie ihm brachte. Und zum Dank schwor er sich heimlich, mit dem Rauchen fortzufahren.
 
Dass dies für seine spätere Fussballerkarriere nicht förderlich war, kümmerte ihn herzlich wenig. Eifrig trainierte er nach der Genesung mit seinem Freund Willibald im Garagenbereich des Polizeireviers Freistösse aus allen Distanzen und Winkeln, Sommer und Winter, bei Sonne, Schnee und Regen. Dass er bei einem besonders intensiven Geballer, das bei der nasskalten Witterung deutliche Schmutzspuren an den Garagetoren hinterliess, von seinem eignen Vater inhaftiert und ins Gefängnis geworfen wurde, betrachtete er als gerechte Strafe Gottes. Er klappte die Eisenpritsche runter, legte sich auf die abgefiggte Rosshaarmatratze und wartete auf die Mutter, die ihn tatsächlich auch bald aus seiner misslichen Lage befreite.
 
Nach ein paar Kurzaufenthalten in der sinnigerweise in einem Kellerverlies eingebauten Säuferzelle – übrigens inmitten urinmarkierter Spreuersäkken - gab er seine bisherigen Wunschberufe als Fussballer oder als Trämliführer auf und beschloss trotz der zwischenzeitlich begonnenen Ministrantenlaufbahn, Räuber zu werden.
 
Ganz anderes hatten die Patres im Kloster im Sinn. Ihnen entgingen die tollen schulischen Leistungen von Sebastian nicht. Und auch im Religionsunterricht war er einsame Spitze. Er sammelte eifrig farbige Heiligenbildli und Pater Pankraz ging eines Tages soweit, dass er ihm eröffnete, dass er dank der von Gott geschenkten Talente eines Tages wohl mal Bundesrat werden würde. Die Tragik von Pankraz war, dass er nicht wusste, dass sich Pauli zu Hause im Estrich seit Jahren einen Altar aufgebaut hatte, an dem er zwei bis drei Mal in der Woche die heilige Messe mit Süssmost und Wasser zelebrierte.
 
Wenn Pankraz das gewusst hätte, hätte er Sebastian ab 2025 wahrscheinlich noch eine steile Karriere als Papst prognostiziert getreu nach der kerkelingschen Erkenntnis: Sind die alten Zähne erst mal raus, hat die heilige Zunge freies Spiel. So jedoch blieb es beim Bundesrat. Man merke: Schon in jungen Jahren tanzte Sebastian „federerleicht“ und ohne Probleme zwischen den Extremen. Gegensätzlichkeiten und Widersprüche störten ihn schon damals nicht.


Der verschnürte Karton

Sebastian war mit krächzenden Stimmbändern unterwegs zum pubertierenden Jung-Kleiber. Der Vater nahm nicht nur seinen Stimmbruch mit Befriedigung zur Kenntnis, sondern auch die Tatsache, dass der Altar im Estrich langsam am Verstauben war. Das hatte wahrscheinlich damit zu tun, dass Sebastian langsam die Weltlichkeit mehr interessierte als die für ihn kaum fassbare Göttlichkeit. Ausgelöst hatte diese neue Lebensphase eine unauffällig platzierte Kartonschachtel in einem Nebenraum des Estrichs. 

Die Tatsache, dass sie beinahe wöchentlich neu verschnürt wurde, machte Sebastian, der wahrscheinlich doch etwas Polizistenblut seines Vaters geerbt hatte, so neugierig, dass er eines Tages dem Drang zu wissen, was da drin war, nicht widerstehen konnte. Er öffnete die Schachtel und entgegen kam ihm die ganze Schönheit des weiblichen Körpers in über 100 farbigen Broschüren mit peppigen Kommentaren. Sebastian hatte zwar nicht Amerika entdeckt, dafür aber Angelika. Sie war scheinbar das Covergirl, das bei der väterlichen Rangliste oben aus schwang und Platz 1 der von der Polizei am Bahnhofkiosk und bei Coiffeur Mario konfiszierten Sexhefte für sich beanspruchte. Dass der Lagerplatz für solches Gut in der elterlichen Wohnung war, begriff Sebastian nicht ganz, wohl aber dass die Polizei wöchentlich eine Vollständigkeitskontrolle vorzunehmen hatte. Und da wollte er seinen Vater unterstützen.

Er fertigte handschriftlich ein Kontrollprotokoll vor und trug fein säuberlich das Datum seiner ersten Kontrolle ein. Auf den Karton schrieb er: „Jetzt weiss ich es“ und spielte dabei auf seine frühere sexuelle Aufklärung an, als ihm die Eltern ein paar Monate zuvor das Buch „Du sollst es wissen!“ auf den Nachttisch gelegt hatten. Unwesentliche Randbemerkung: Seine frühreife Klassenkollegin hatte vor nicht allzu langer Zeit von ihren Eltern das Buch „Du musst es wissen!“ erhalten. Die Replik seines Vaters liess keine zwei Tage auf sich warten, dann sah Paul ein Buch auf der Kartonschachtel mit dem Titel „Der Idiot“. Dostojewski‘s Paraderoman beantwortete er mit Heinrich Böll‘s „Ansichten eines Clowns“. Damit hatte es sich. Wachtmeister Kleiber verzichtete schweren Herzens auf eine familiäre Auseinandersetzung vor seiner Angetrauten und damit auch auf ein internes, polizeiliches Verfahren. Der Sohn war nach dieser Erfahrung im Begriff, in die mysteriöse, unerklärbare, zeitweise nebulöse, öfters schleierhafte, unheimliche und unergründliche, schwer zu verstehende und nicht zu begreifende, magische, aber stets geheimnisvolle Welt des weiblichen Geschlechts einzutau
chen.


Ein Edelstein wird geschliffen

Bekanntlich ist der Schliff für das Feuer eines Diamanten massgeblich. Kann der eine bei schlechtem Schliff fast leblos wirken, sprühen bei einem anderen, guten Schliff beinahe die Funken. Sebastian wurde geschliffen, was das Zeug hält, vor allem schulisch; von guten, von weniger guten und von katastrophalen Schleiffern. Der Glanz beim Zertifikat, sprich Schulzeugnis war stets hervorragend. 
 Aber Glanz erzeugt auch Neider, selbst unter den Schleiffern. So grummelte man über seine ländliche Herkunft, die mit der eines Grossstadtkindes nicht standhalten konnte. Landeier gehören zum Horn- und Federvieh und nicht zur städtischen Intelligenzia. Kultur war zu jener Zeit reine Burgersache. Landeier von „hinde fiire“ sind vom „Daig“ bestenfalls geduldet und haben gefälligst unter Ihresgleichen zu bleiben. Darunter hatte Sebastian immer wieder zu leiden.

     Für einen besonders desolaten Schleiffer war er der „Tüsso“. Sebastian wusste zwar nicht, wie er zu diesem Übernamen gekommen war. War es die ländliche Herkunft oder gar eine Anspielung auf Madame Tussaud’s Wachsfigurenkabinett in Paris und damit auf sein bleiches, anpasserisch wirkendes Erscheinungsbild.

     Oder hatte der Turnlehrer an der Lehrerkonferenz gar getratscht, dass sich das Bleichgesicht nach den Turnstunden nie duschte? Nicht, dass er nicht wollte, aber er konnte nicht! Seine sexualfeindliche Erziehung liess ihn vor Scham erröten, wenn er daran dachte, dass er die Vorhaut nicht über den Pimmel ziehen konnte. Irgendetwas im Genitalbereich stimmte nicht und im Kopf noch weniger! Über solche Sachen redete man in seinem Elternhaus nicht! Und dazu noch die Schmach, der Tüsso zu sein!  Jedenfalls fand der Französisch-Lehrer seine eigene Wortschöpfung sensationell. Er gebrauchte sie immer wieder. Il a laissé faire ses ressentiments, in jeder Lektion: Frühling, Sommer, Herbst und Winter.

   Der Englisch-Lehrer seinerseits erzählte in seinen Lessons öfters solchen ehrverletzenden bullshit, dass sich Sebastian sprichwörtlich der Magen drehte. Den Mitschülern war es schnurz. Sie schnallten wahrscheinlich gar nicht, was im Schulzimmer abging. Aber für Sebascht war’s schlichtweg erniedrigend. Er kämpfte sich acht Jahre lang tapfer durch eine sanfte, bezeichnenderweise farblose Pubertät bis er seine ganzheitliche Maturität erreicht hatte. 

Der Bauerntrampel war im städtischen Abiturzeugnis als Klassenbester rangiert; schulisch top, mental  flop. Seine latente, psychisch bedingte Kotzlust trieb ihn an den Rand zur Magersucht. Die Schliffe oder noch präziser formuliert: die Schleiffer hatten deutliche, unverwischbare Spuren hinterlassen. Den Pädagogen sei Dank oder in den Worten des Klerus zu sprechen: Vergelt’s Gott!


Die Prägungen der Adoleszenz oder das Frauenbild
 
Mit 14 Jahren war Sebastian zum ersten Mal verliebt in eine bildhübsche, grazil herbe Schönheit aus einer rabenschwarzen Familie. Obschon strohblond war sie – wie von Sebastian erwartet - sehr intelligent. Trotz allem hatte sie einen grossen Makel: Leider hatte Vreni – so hiess sie - bei den spärlichen Rendez-vous immer ihren jüngsten Bruder, der sinnigerweise Pius hiess, als Aufpasserli mitzunehmen; mütterlicherseits angeordnet, väterlicherseits kontrolliert. Dass der Begrenzung der zwischenmenschlichen, amourösen Spontaneität damit etwas Rückschub geleistet wurde, war ganz im Sinne der Familienkurie, die es immerhin schaffte , sieben von der Kirche abgesegnete Kinder ohne Almosen- oder Ablassgelder zu zeugen.

Die Affinität des ehemaligen Ministranten zu einem solchen Background-Szenario war zu jenem Zeitpunkt noch nachvollziehbar insbesondere, da die Dame auch sehr sportlich und trotz allem sehr lebensfreudig war. Trotzdem dauerte die Freundschaft nur zwei Jahre. Oder immerhin? Sebastian, der sich rein äusserlich zu einer Beatles-Kopie entwickelte, neigte in der Adoleszenzzeit zu bulimistischer Lebensweise mit hyperaktiver Sportlichkeit.
 
Vreni hiess nicht nur Vreni, sie war auch ein Vreneli. Schollenverbunden, geerdet und trotzdem etwas Goldiges an sich. Sportlichkeit verband sie nicht mit Höchstleistungen, sondern mit naturnahem Wandern und Velo fahren. Die langen Männermähnen und die damals modischen Schlaghosen verurteilte sie als Symbole der Hippie-Bewegung, die nicht zu ihrem Weltbild passten.  So trennte man sich und die erste Liebe ging ausser ein paar zärtlichen Lippenkontakten in den wenigen Augenblicken, wo das kommandierte Aufpasserli seine Aufgabe nicht wahrnahm, keusch zu Ende.

Die andere Frau, die Sebastians Frauenbild prägte, war wie bei den meisten Männern, seine eigene Mutter. Klein von Gestalt; 154 cm ab Boden, ganze 30 cm kleiner als der Vater, aber trotzdem (oder gerade deswegen?) sehr selbstsicher, zeitweise mit recht dominantem Auftreten. Sportlich in der Figur, kräftig im Zulangen. In der Öffentlichkeit stets bemüht, „La grande Dame“ zu spielen. Toupierte Frisur, schon damals gefärbt. Frau Wachtmeister – wie sie genannt wurde - genoss ihre Auftritte, denn sie war ja die Frau des höchsten Polizisten der regionalen Polizei. Und der Polizeiwachtmeister gehörte damals neben dem Arzt, neben dem Pfarrer und dem Lehrer zur örtlichen Prominenz und die verlangte vom Volk zumindest den gehörigen Respekt. 
      Man merke den kleinsten gemeinsamen Nenner oder Sebastians Frauenmuster: Haarfarbe nicht so wichtig, eher klein gewachsen, sportlich gebaut, starke Persönlichkeit, intelligent, etwas extravagant und verhaltensoriginell; nicht unbedingt eine klassische Schönheit, aber sicher eine Eye-Catcherin. Sicher keine graue Maus und sicher keine 08/15-Frau.
 
 
Das Studentenleben
 
An seinem 21. Geburtstag begann die Abnabelung vom ländlichen Gebiet und den rustikalen Autoritäten. Die Grossstadt lockte und Sebastian folgte dem Ruf. Er hatte sich nach intensivem Nachdenken, das ihn nicht entscheidend weiterbrachte, schlussendlich entschlossen, ein Jurastudium in Angriff zu nehmen. Der Polizist und der Räuber lassen grüssen! Er zog mit seinem damaligen Kollegen in eine Studentenwohnung ein, genauer gesagt und auf den Punkt gebracht: in eine miese Bruchbude; günstig zwar, aber leider bis dato noch ohne Besuch eines Kammerjägers. Entsprechend keimfreundlich wurden die Zimmer dann auch eingerichtet.
 
Drei alte Pneus als Sitzgruppe, ein vergammeltes Bett als Schlafstätte, eine Occasionsmatratze aus dem Brockenhaus als Schlafunterlage eingebettet von der ehemaligen Bettwäsche von Gross-mutter selig. Elektroinstallationen wurden aus oekonomischen Gründen prinzi
piell selbst gebastelt.
 
Das gelegentliche Zischen und Funken machte niemandem wirklich etwas aus. Hygiene war ein Begriff für die Fachliteratur der Mediziner oder anderer Sauberkeitsfanatiker. Die Bettwäsche wurde grundsätzlich erst gewaschen, wenn es einem am Morgen irgendwo am Körper unangenehm zwickte. Den Schlag zu putzen war angesagt, wenn man beim Ausschnaufen nichts mehr sah. 
 
Das Klo befand sich zwischen dem 1. und 2. Stock im Treppenhaus und war im Halbschlaf nur mit einem guten Riechorgan problemlos aufzufinden. Dass sich das Bad in der Küche befand, wäre bei einer Mitkommilitonin zwar noch sehr reizvoll gewesen, bei einem Mitbewohner wirkte das Ganze jedoch eher störend. Wellness und feminine Beauty ja, aber nicht männliches Phallusgehabe bei einer Butterschnitte und einer Tasse heisser Ovomaltine.
 
Über sein langjähriges juristisches Studium gibt es nicht viel zu sagen. Die Universität und er gingen verschiedene Wege. Die Eltern finanzierten jahrelang ihren Studiosus. Sie meinten das Studium der Rechtswissenschaft, er das Studium des Lebens. Er buffte und puffte dufte durch den Tag, lebte bis in alle Nacht und schlief am Morgen gerne aus getreu nach dem Motto: no Frust, always Lust, Sex und Eierkuchen. Übrigens, das mit der Vorhaut klappte unterdessen bestens! Er schrieb sich in seinem Testatbuch eifrig für Vorlesungen ein, die er gar nicht besuchte. Die universitäre Corona, sprich die Damen und Herren Professoren wollten sich partout nicht seinem persönlichen Lebensrhythmus anpassen.
 
Immerhin gibt es in den sechs Studentenjahren noch zwei positive Lebenssequenzen. Militärisch zeigte Sebastian für einmal wieder Durchhaltevermögen. In der Offiziersschule machte er auf dem 100 km-Marsch als vermeintlich Gruppenschwächster so viel kollegialen Willen und kameradschaftliche Power frei, dass die ab 70 km schwächelnde Gruppe trotz allem Gejammer und Gestöhn der Mitaspiranten dank seinen Motivationskünsten und kreativen Durchhalteparolen doch noch den 3. Platz und damit die Bronzemedaille erreichte.
 
Ein erster Erfolg für den Herrn Papa. Die Familie Kleiber hatte in der eidgenössischen Wehrmacht endlich einen Offizier vorzuweisen. Der goldene Schuss war also doch kein Rohrkrepierer, aber das Kaliber immer noch ziemlich klein, höchstens ein goldener Bolzen aus einem alten, unpräzisen Luftgewehr. 
 
Was wirklich gold und edel war, war seine neue Freundin. Er lernte sie in einem Café kennen. Sie hiess Caroline und sie faszinierte ihn vom ersten Augenblick an. Kleine Statur, erotisierende Lippen und ein selbstbewusstes Klappmäulchen; männerschmelzende Persönlichkeit, einfühlsam und vor allem sehr lieb; alles Übrige gemäss Sebastians Frauenbild. Es kam so, wie es kommen musste


Paul kämpft um sein Comeback
 
Beruflich hatte der Hoffnungsträger abgehalftert. Sein Weltgeschehen lief nicht so wie von Pater Pankraz prognostiziert. Mit 27 Jahren stand er da, war Präsident eines ländlichen Fussballclubs und sonst nichts. Sechs Jahre Studium der Rechtswissenschaften, sechs  Jahre Flohnerleben.
 
Ohne Titel, nicht mal mit einem Abschluss. Die Enttäuschung war für beide Parteien gross. Die Eltern mussten ihren Traum, den ersten Akademiker in ihrem Ahnenstamm produziert zu haben, begraben. Sebastian erkannte dank seiner neuen Freundin endlich, dass nun wirklich etwas im Leben verändert werden musste. Der Gong zur ersten Runde seines Überlebenskampfs hatte geschlagen und er war unüberhörbar.
 
Nach dem unerwarteten Tod seines älteren Bruders beschloss Sebastian, mit der beruflichen Aufholjagd zu beginnen und bewarb sich als Direktionsassistent eines kleineren Schweizer Touroperators. Er begann mit einem Minilohn (Sfr. 2200) und mit grossen Versprechungen (Übernahme des Geschäfts bei der baldigen Pensionierung des Geschäftsinhabers). Resultate: Attraktivierung des Betriebs, neue Märkte, neue Werbestrategien, Umsatzsteigerung von über 20% und dann Knall auf Fall die Kündigung. Der Mohr hatte seine Schuldigkeit getan! Der schweizerische Branchenleader übernahm seinen kleineren Konkurrenten und Sebastian war wieder dort, wo er herkam. Er bezog zwar dankbar, aber trotzdem widerwillig  Arbeitslosengelder und fühlte sich als Totalversager. Kurze Zeit zwar nur; denn er liess sich nun dank seiner neuen Liebe nicht  mehr unterkriegen. 
 
Militärisch ging’s zügig voran; er bekam einen Vorschlag, der drei goldene Spaghetti verhiess und dies machte seinem neuen Arbeitgeber, einen bekannten Industrieunternehmen mächtig Eindruck. Die Firma sah sein Potential und vor allem: sie glaubte an ihn. Sein neuer Arbeitgeber förderte ihn, wo er konnte. Er gab ihm verantwortungsvolle Stabsaufgaben und begrüsste auch sein staatspolitisches Interesse, dem er sich zunehmend mehr zuwandte.
 
Zwei Jahre später heiratete Sebastian nach sechs Jahren intensiver Bekanntschaft seine Caroline, die sowohl in guten wie in schlechten Zeiten zu ihm gestanden hatte. Es war beinahe eine Märchenhochzeit. Die kirchliche Trauung fand in einer idyllischen Kapelle auf der Jurakette statt, die anschliessende Hochzeitsfeier in einem älteren romantischen Schloss. Sebastian war in die Gesellschaft zurückgekehrt. Er hatte wieder Boden. Und wie!

Er bereiste mit seiner Frau die halbe Welt und ausser Australien sahen sie alle Kontinente. Ein Schlüsselereignis erlebten sie im nahen Osten: eine Bekanntschaft in Pattaya, die die Beiden nie mehr vergessen sollten. Morgens und abends führten sie in der Hotel-Lounge angeregte Diskussionen mit Stefan, einem ortsansässigen Schweizer Bürger. Am letzten Ferientag nach intensiven Gesprächen und eine lukullischen fernöstlichen Festschmaus outete sich Steff als Krimineller. 
 
In einem Anfall von Frustration habe er in einer Schweizer Grossstadt eines Tages die heimische Telefonzentrale mit einem Fass Benzin in Brand gesetzt. Dass er damit ein grossstädtisches Telefonnetz von circa einer halben Million Anschlüssen lahm legte, war bewusst und gewollt. Der Fall entfachte damals ein riesiges Medienecho und beschäftigte die Presse über Monate. Man mutmasste über die Täterschaft, aber der Hauptverdächtigte wurde nie gefasst. Stefans Flucht hatte ihn anscheinend über mehrere Stationen und Länder nach Thailand geführt, wo er sich nach eigenen Aussagen recht wohl fühlte. 
 
   Sebastian und Caroline waren geschockt und fanden an jenem Abend, als sie in das Geheimnis eingeweiht wurden, nur spärlich Schlaf und wenn, dann mit schrecklichen Albträumen. Sebastian sah sich in einer Telefonzentrale von den Feuerflammen angeschmort. Caroline wurde auf der Flucht ins Freie von Steff verfolgt, der mit einem Benzinkanister in der linken und einem Messer in der rechten Hand zwar wesentlich schneller rannte als sie, aber scheinbar nur langsam näher kam. Caroline plagten zunehmend muskuläre Probleme und als sie zu lahmen begann, erlöste sie Gott, weckte sie und hauchte ihr wieder ihre ausgesäuerten Lebensgeister ein. 
 
Am nächsten Tag reisten die beiden ab. Im Flugzeug beschlossen sie, keiner Menschenseele, am allerwenigsten der Polizei etwas von ihrem neuen Wissen preis zu geben. Wenn Sebastian heute den Begriff der Nachhaltigkeit erklären müsste, er würde todsicher auf diese - wie sich später zeigen wird - schicksalhafte Begegnung zurückgreifen.

 

Zurück im Flow
 

Nach x-erfolglosen Schwängerungsversuchen seitens des potentiellen Vaters respektive Schwangerschaftsbemühungen seitens der Mutter in spe (Fruchtbarkeitszyklen, Knaus-Ogino-Methode und andere alte Erkenntnisse mehr) gaben Caroline und Sebastian ihren Herzenswunsch auf und beschlossen ein Einfamilienhaus zu bauen; ohne Kinderzimmer versteht sich. Die Planung des Hauses war noch nicht ganz abgeschlossen, als Caroline zum grossen Erstaunen aller schwanger wurde. Das einte Gästezimmer wurde wieder umfunktioniert in ein Kinderzimmer und man erwartete gespannt die Resultate der nun anstehenden Ultraschalluntersuchungen.
 
Ein Mädchen war scheinbar heiss darauf, der Familie weiteren Halt und Stabilität zu verleihen. Rihanna erblickte die Welt, war herzig, schön und sehr vif, vor allem nachts. Ganz der Vater wie Sebastian meinte, ganz die Mutter zumindest äusserlich, wie Caroline stets zu verstehen gab. Das Glück war vollkommen. Zwei weitere Lebensziele waren erreicht. Ein Auto hatte man schon lange. Nun dankte man Gott für das gesunde Kind und nebenbei konnte man an Weihnachten noch in ein neues Eigenheim einziehen.
 
Keine zwei Jahre später meldete sich Rihannas Schwesterchen Noemi an. Die Geburt war eindrücklich, weil Sebastian sofort bemerkte, dass der von Pater Pankraz weissagte Bundesrat nun die Familie Kleiber nun erreicht hatte. Noemi war ein Abbild des damaligen Bundesrats Egli. Glatzköpfig wie der Magistrat, ruhig und überlegt; der hohe IQ blinkte bereits aus ihren Augen. Die zwei Schnüggeli machten beim jungen Ehepaar ungeahnte Kräfte frei. Die Familie war voll im Lebensspeed.
 
Sebastian kandidierte als Staatsrat und reüssierte schon beim ersten Mal. Ein Jahr später wurde er Major der Schweizer Armee und übernahm dank seines volksnahen, scheinbar beliebten Wesens das Amt des Präsidenten der örtlichen, damals auch bürgernächsten Partei.
 
Im Geschäft war er auf der Erfolgsspur und wies bei seinen Einkäufen von chemikalischen Rohstoffen stets jährliche Einsparungen von gegen einer halben Million Franken aus. Trotzdem gelüstete Sebastian nach acht ergiebig fetten Jahren bei seinem Top-Arbeitgeber eine neue Herausforderung. Er bewarb als sich kaufmännischer Direktor bei einem grösseren Kunststoff verarbeitenden Betrieb.
 
Er erhielt nach einer Bewerbungszeit von sage und schreibe einem halben Jahr endlich die begehrte Stelle. Dass er in einem Konglomerat undurchsichtiger multifunktionaler und querfinanzierter Betriebe landete, wo niemand, wahrscheinlich nicht mal der Treuhänder die finale Übersicht hatte, merkte er erst nach x fatalen Jahren. Jedenfalls begann damals eine neue Leidenszeit. Die Ägide Wernli hatte begonnen.
 
Den Konzernchef hatte Sebastian anfangs noch ganz gernli. Seine gepflegte Erscheinung und seine empathische, gewinnende Art imponierten ihm. Zumindest in den ersten paar Monaten. Vom Mittelscheitel bis zur Bally-Sohle stimmte einfach alles; von den brillantin einbalsamierten Haarsträhnen bis zu den feingewichsten Promischuhen, die der stattlich korpulenten Leadfigur äusserlich ein glänzendes Fundament verpassten. Er war für Sebastian die perfekte Lead- und Vaterfigur.
 
Daneben sein Adlat! Das pure Gegenteil: sehnig, gädrig, haarig, zirka 180 cm gross mit – wenn überhaupt – mit einem höchstens halb so hohem IQ. Typ: muskulöser Türsteher, perfekter Bodyguard, der die ihm im Konzern zugedachte Rolle als Ausmister und Rausschmeisser voll auszuspielen vermochte.
 
Der kaufsüchtige und – wer weiss das so genau? - scheinbar auch kaufkräftige Konzernleiter spezialisierte sich darauf, konkursite Liegenschaften günstigst einzukaufen, um dann mit mehrheitlich angeschlagenen, randständigen Arbeitskräften eine artverwandte Produktion wieder aufzunehmen.
 

Da er scheinbar von der Kostenrechnung keine Ahnung hatte und sich prinzipiell nicht in die Zahlen blicken liess, erstaunt nicht, dass in einem in der Schweiz särbelnden Produktionszweig die kostendeckende Produktion nie erreicht werden konnte. Zu Zeiten, wo in anderen Betrieben die EDV längstens Einzug gehalten hatte, wurden bei Sebastians Betrieb die Rechnungen immer noch im ORMIG-Verfahren umgedruckt. Verbesserungsvorschläge, Reorganisationskonzepte wurden bei den monatlichen Sitzungen stets wohlwollend aufgenommen und verabschiedet mit der Konsequenz, dass sie ein paar Tage später nach Rücksprache mit dem Einflüsterer wieder begraben wurden. Das Image des Konzernchefs bröckelte zusehends.
 
Was ihn jedoch noch ausharren liess, war der firmeninterne CEO. Ein charakterlich einwandfreier, senkrechter Typ, der stets sein Bestes gab. Auch wenn man nicht immer gleicher Meinung war, man vertraute sich gegenseitig und stützte einander. 
 
Aber Sebastian litt zusehends, weil er intuitiv merkte, dass sein Engagement immer wieder mit in einem Treten an Ort endete. Einerseits wurde mehr Umsatz verlangt, anderseits war man nicht bereit, die Konsequenzen zu tragen und sich organisatorisch, strukturell und führungsmässig der damaligen Zeit anzupassen.
 
Nach einem halben Dezennium erstarrte Sebastians Elan endgültig und damit auch sein Herz. Er übersah Alarmzeichen wie Atemnot, verdrängte immer wiederkehrende Brustengen und ärgerte sich weiter grün und blau, bis sein Herz auf rot schaltete und einen Infarkt inszenierte. Und zwar einen massiven! Der Schock war gewaltig, nicht nur bei Sebastian, vor allem auch bei Caroline und seinen Töchtern, aber auch in seinem engeren Umfeld und in seinem Freundeskreis.
 
Mit 44 Jahren in einem Spital reanimiert zu werden, ist ein gellender Hilfeschrei der Seele. Sebastian vergass für einmal – vor allem auch dank Caroline – seine masochistisch maskulinen Verdrängungsstrategien und entschloss sich, sein Leben zu verändern, massgebend und radikal. Er selbst  war fest überzeugt, seine Lektion gelernt zu haben.
 
 
Wohin des Weges?
 
Sebastian ging in sich, studierte nach, hinterfragte sich nächtelang. Der Rehabilitationsaufenthalt in einer Herzklinik gab ihm viel Zeit über sein Leben und seine Zukunft nachzudenken. Er lernte besser mit dem Stress umzugehen, er lernte sich gesünder zu ernähren, kam wieder zurück zum Sport und eroberte sich Schritt für Schritt sein ureigenes Selbstvertrauen wieder zurück. Eine astrologische Deutung seines Lebensziels zeigte ihm die Spur, der er auf seinem weiteren Lebensweg zu folgen hatte:
 
„In Ihrer Wiege lag ein Königskind - Sie selbst. Mit dem Stolz, eine besondere Rolle innezuhaben, sind Sie aufgewachsen. Jetzt streben Sie danach, Ihre persönliche Kraft auf einer weiten Bühne zu inszenieren und sie in den Dienst einer Gemeinschaft zu stellen. Ihre Ausstrahlung von selbstverständlicher Autorität macht Sie spielend zur Führungsfigur für gross angelegte Projekte, in denen Sie Ihre idealistischen und innovativen Ideen verwirklichen können. Sie fühlen sich zu Aufgabenstellungen gesellschaftlichen Ausmasses hingezogen; besonders zu solchen, die den neuen Zeitgeist ins Bewusstsein bringen. Sie sind auf künftige Entwicklungen ausgerichtet und ein massgeblicher Träger dieser Prozesse. Sie möchten die Freiheit des Geistes und die Möglichkeit von evolutionären Quantensprüngen proklamieren und zeigen, dass Sie und jeder andere auch, wenn er nur will, kraft seines schöpferischen Geistes sein Leben vollständig verändern kann. Ihre visionäre und mentale Kraft ist auf Vernetzung positiver energetischer Verbindungen zwischen Menschen gerichtet.“
 
Nach vier Wochen Klinikaufenthalt wusste Sebastian, welchen Weg er künftig zu begehen hatte und machte sich auf den Weg zum nächsten Wegweiser. Zeit, das wusste er, hatte er nicht allzu viel; aber er nahm sie sich. Fehlentscheide konnte er sich nicht mehr leisten. Sein Herz gab den unerbittlichen Takt an.
 
 
Die Maturität des Lebens
 
Dem Wegweiser begegnete er kurze Zeit später im regionalen Anzeiger. Man suchte einen CEO für eine soziale Institution, die neu erbaut wurde. Es sollte eine Führungspersönlichkeit sein, kreativ und innovativ, die bei der Ausgestaltung des neu zu erbauenden Heims neuartige Impulse in der kantonalen und nationalen Altersarbeit setzen sollte.
 
Sebastian war begeistert vom Gedanken, etwas Grosses von Beginn weg mitgestalten zu können und bewarb sich umgehend. Die Vorzeichen standen gut. Sebastian kannte die meisten Vorstandsmitglieder, die das Wahlvorschlagsrecht hatten. Dessen Präsident - je nach dem sein künftiger Chef - war ein enger Kollege, mit dem er schon manches Projekt besprochen und realisiert hatte. Nach einem intensiven Hearing  wurde er vom Vorstand vorgeschlagen und an einer regionalen Delegiertenversammlung mit nur einer Gegenstimme gewählt; allerdings, was ihn doch recht erstaunte, erst nach längerer Diskussion.
 
Sebastian hatte seinen Traumjob und begann ein halbes Jahr später mit der Arbeit. Die nächsten sieben Jahre waren das Sahnehäubchen seines Lebens. Er führte seinen Betrieb mit Zuckerbrot und Herzschrittmacher. Sebastian hatte eine gute Nase für Leute, die zu ihm passten. Seine Pflegedienstleiterin musterte ihn bei der ersten Begegnung von der obersten Stirnrunzel bis zum kleinsten Zehen; aber auch sie spürte im Grunde ihrer Seele, dass sie beide ein gutes Führungsduo werden würden. So war es denn auch. Zudem war der Küchenchef des Hauses ein hervorragender Organisator und gastronomisch äusserst kreativ.
 
Sie öffneten ihre Institution konsequent gegenüber der Öffentlichkeit und machten sie zu einem Haus der Begegnung. Attraktivität für jedermann und bei allem, was gemacht wurde. Im Eingangsbereich schafften sie ein Kulturforum für bildende Kunst aus der Region. Das Restaurant glänzte mit einer attraktiven Speisekarte und schaffte selbst Einträge in den nationalen Gastroführern. Die Pflege und Betreuung war wegweisend, die Qualitätsstandards schlicht hervorragend. Der Kanton würdigte ihre Arbeit und das Schaffens des Teams mit dem kantonalen Unternehmerpreis, den ersten im Kanton für eine soziale Institution:
 
„Die Jury des Unternehmer Preises zeichnet das Alterszentrum und damit die Trägergemeinden mit der Anerkennung für besondere unternehmerische Leistungen aus. Dies vor allem in Würdigung der vorbildhaften Denkweise des Hauses. Es ist dem Team gelungen, die Dienstleistung Alterspflege aus der heute noch vielerorts anzutreffenden Isolation herauszuführen. Die Leitung des Zentrums hat pionierhaft erkannt, wie brachliegendes Potential eines solchen Betriebs zusätzlich wirtschaftlich genutzt werden kann und damit gleichzeitig zu einer ungekünstelten Steigerung des Lebensqualität der dort wohnenden Seniorinnen und Senioren beiträgt.“
 
Sebastian hatte Genugtuung erlangt. Er labte sich am Lob und schleckte die positiven Medienberichte genüsslich die Seele runter. Er fühlte sich wohl und er lebte im Einklang mit Gott, seiner Familie und seinen rund 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Er erinnerte sich an das Medium Coeli, an seine astrologische Deutung, die ihm gesellschaftliche Engagements weissagte, respektive empfohlen hatte. Er wurde Richter am kantonalen Arbeitsgericht und hatte dieses Amt acht Jahre lang inne. Er war jahrelang Präsident des kantonalen Heimverbands und befasste sich hernach mit der Planung und Realisation einer neuen regionalen Sportanlage in seiner Wohnregion.
 
Sebastians Idee war raffiniert und seiner Meinung nach durchaus machbar. Die beiden bisherigen Sportplätze in der Zone für öffentliche Bauten und Anlagen befanden sich im Eigentum des örtlichen Fussballvereins und grenzten unmittelbar an zwei Wohnzonen, nämlich die des eigenen Dorfes und an die des Nachbardorfs. Wenn der Gemeinde eine Einzonung in die Bauzone gelänge und der neu vorgesehene Standort in der Landwirtschaftszone in die OeBA (Zone für öffentliche Bauten und Anlagen) umgezont werden könnte, würde der Fussballclub Multimillionär werden, und die Gemeinde käme quasi zum Nulltarif zu einer neuen richtungweisenden Sportanlage.
Die Ortsvereine, die Gemeinde und die Region sprangen grossmehrheitlich auf diese Idee auf. Wie immer gab es auch hier ein paar Kritiker, die das Ganze für unrealisierbar hielten: der Kanton mache nicht mit; im vorgesehenen Areal seien gegen 90 Landbesitzer, die schlicht nicht alle zum Verkauf ihrer Parzellen zu bewegen seien.
 
Nach sieben Jahren hatten es Sebastian und sein Kompagnon Isidor geschafft. Der neue Sportplatz mit 3 Fussballplätzen, mit Tribüne und angegliedertem Sportinfrastrukturhaus, mit 3 Tennisplätzen, 1 Leichtathletikanlage mit einer 100 m Bahn und einem Kinderspielplatz wurde eingeweiht und der heimische Fussballclub war nicht nur erneut Eigentümer seiner drei Fussballfelder geworden, sondern startete so nebenbei mit einem Vermögen von über eine Mio. Franken in eine rosige Zukunft. Sebastian und sein Projekt-Kompagnon erhielten den kantonalen Sportförderungspreis:        
 
„Isidor Meili und alt Staatsrat Sebastian Kleiber erhalten gemeinsam einen Sportverdienstpreis für ihr fortgesetztes, intensives und uneigennütziges Engagement bei der Planung und Realisation einer polysportiven, regionalen Sportanlage in Maisingen. Ein 1989 eingereichtes Postulat des damaligen Staatsrates Sebastian Kleiber hat zudem wesentlich zur Breitensportförderung im Kanton beigetragen.“
 
Sebastian hatte es geschafft. Er war dort, wo er hin wollte. Er war geachtet und hatte einen guten Ruf. Aber er wurde masslos, er wollte mehr.
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Ein Projekt zu viel?
 
Nach beinahe 20 Jahren als Heimleiter eines Altersheims oder moderner formuliert: als CEO eines Gesundheits-,  Gastronomie- und Kulturzentrums kam Sebastian, der die Entwicklung im Gesundheitswesen als zwischenzeitlich ausgebildeter Gerontologe sehr genau verfolgte zum Schluss, dass das kleine Regionalspital in Maisingen mittel- und langfristig keine Überlebenschance hatte. Dies motivierte ihn, nach seinen vier realisierten Grossprojekten, nach dem Neubau der Gemeindeverwaltung, nach der Mitinitiierung der regionalen Kulturtage, nach dem Projekt einer Neunutzung des Klosters Winterswil und nach dem kreativen Schachzug beim Neubau der regionalen Sportlage in Maisingen als vermeintlicher Höhepunkt seines Daseins sein fünftes Grossprojekt – wie immer mit einem kompetenten Partner oder einer gewieften Partnerin - in Angriff zu nehmen.
 
Sebastian sah sich stets als Vordenker. Die Gesundheitspolitik in der Schweiz war im Wandel begriffen. Regionalspitäler kamen zusehends unter Druck. Die Spitaleinheiten wurden unter dem bestehenden Kostendruck grösser ausgelegt und vor allem grossregional konzipiert.
 
Kantonale Grenzen interessierten die Meinungsbildner weniger, entscheidend war die flächendeckende, ganzheitliche Gesundheitsversorgung. Dass damit das kleine örtliche Spital unter Druck kommen würde, war Sebastian klar. Er entwickelte gedanklich eine neue Strategie. Im vollem Wissen, dass in der Region eine medizinische Überversorgung existierte, heckte er einen Plan aus, welcher der Region Millionen einbringen und sein Lebenswerk krönen sollte.
 
Die Schliessung des Kleinspitals wurde – wie erwartet - schon bald politisch andiskutiert, insbesondere da das nächste Regionalspital mit einem nahezu identischen Leistungsauftrag keine 5 Kilometer entfernt lag. Das Volk verwehrte sich gegenüber der obrigkeitlichen Argumentation und kämpfte vehement gegen den Verlust seines Spitals.
 
 Eines Tages fand Sebastian endlich den Mut, mit seiner Idee an die Öffentlichkeit zu treten. Er thematisierte die Idee, ein neuartiges Demenz-Zentrum zu entwickeln. Er wusste nur zu gut, dass die Region in ein paar Jahren in ein gravierendes Defizit an Heimplätzen geraten würde. Warum also nicht mit dem Kanton zusammenspannen und die Institution neu im Altersbereich ansiedeln?
 
Er erachtete dies als Chance vor allem für die Region, aber es war im Grunde genommen auch seine Chance! Der Verlust von Arbeitsplätzen würde sich in Grenzen halten; denn viele Arbeiten waren artverwandt. Der Zeitpunkt war goldrichtig. Die Region hatte keine spezialisierten Demenz-Pflegeplätze und die Regierung hatte einen dringenden Bedarf an politischem Erfolg. Das liess sich bei richtigem Verhandeln auch monetär ausnützen.
 
Sebastian wusste, dass dieses Projekt seine bisher grösste Herausforderung war, und er sich nur mit einem neuen, innovativen Konzept und mit überzeugender Argumentation durchsetzen würde. So ging er auf die Suche nach den Besten ihres Métiers. Wie immer suchte er eine Partnerin oder einen Partner für sein Vorhaben. Auch hier wurde er fündig in der Person einer uni-solo Leiterin von mehreren Nonprofit-Organisationen, von der Pro Senectute, über die Spitex-Dienste bis hin zu anderen spendernahen Institutionen. Sie ergänzten sich hervorragend. Sie mit Sternzeichen Löwe die akribische Schafferin; die Nationaloekonomin, die alles rechnete, überprüfte; die unbequeme Fragen stellte, die ein Temperament hatte, das die Gegner manchmal zur Weissglut trieb; er als doppelter Zwilling der Visionär mit kreativen neuen, manchmal etwas unkonventionellen Denkansätzen; öfters - wie sie meinte - etwas zu harmoniebedürftig. Aber da er auch ausgleichend argumentierte, war das für das Projekt schlussendlich doch ein Segen. Erleichternd dazu kam die Tatsache, dass sich beide gut mochten und miteinander schon seit 10 Jahren geschäftlich verbunden waren.
 
Sie war ehemalige Staatsrätin der Linken, er ein paar Jahre früher Staatsrat der Rechten. Beide nur 4 Jahre im Amt und trotzdem hatten sie zusammen die besten Drähte in die Regierung. Wo sie keine guten Beziehungen hatte, hatte er den guten Draht. Er war von den Linken geachtet, wie sie von der Rechten. Wo er keine Connections hatte, fand sie todsicher das erfolgversprechende Kommunikationsportal. Und so kam es, dass Sebastian anschliessend an eine Diskussionsrunde über Synergien in der Altersarbeit mit Clivia – so hiess sie - über die mangelnden Alters- und Pflegebetten in der Region diskutierte und sie ihm ihre Vision eines Einkaufszentrums für die Bedürfnisse älterer Menschen offen legte. A idea was born! Die Idee des Kompetenzzentrums für das Alter.
 
Die Finanzierungsidee konkretisierte sich nach der Konsumation des zweiten Einerlis oder präziser: seines zweiten und ihres ersten. Die beiden kamen überein, den Kanton bei der Schliessung des kleinen Regionalspitals, das nicht mal mittelfristig eine vernünftige Überlebenschance hatte, zu unterstützen. Im Gegenzug wollten sie vom Kanton eine namhafte Anstossfinanzierung für die Nachfolgeinstitution aushandeln.
 
Bewusst offen halten wollten sie im Hinblick auf eventuell weitere zusätzliche Finanzenquellen auch die künftige Trägerschaft der neuen Institution. Ein interkantonaler Charakter wäre zudem zeitgemäss und richtungsweisend. Obschon wahrscheinlich ein Produkt von durchschnittlich knapp 0,5 Promille oder vielleicht gerade deshalb, einigte man sich, gegenüber der Regierung einen niederen zweistelligen Millionenbetrag in die Diskussion zu bringen.
 
Die Faszination der Idee beruhte darin, dass der Heimbezirk so gratis zu einer heimähnlichen Struktur käme, dass das artverwandte Personal übernommen werden könnte und Anpassungs- und Umbauarbeiten durch den Beitrag des Kantons finanziert würden. Ein 20 Mio-Bau quasi zum Nulltarif. Ein Schnäppchen par excellence!
 
Die Drähte zum Gesundheitsdirektor liefen heiss; die Politiker von rechts bis links witterten die Chance, das ungeliebte Spital loszuwerden, und die Region, die profitieren könnte, lief, da sie ländlich war, erwartungsgemäss Amok.
 
Das nächste gelegene Regionalspital war wie schon erwähnt 5 km entfernt. Aber da Clivia und Sebastian schon lange wussten, dass es aus der Heirat von zwei Halbschlauen keine schlaue Ehe entstehen konnte, verzichteten sie auf unseelige Kooperations- und Kompromissideen. Sie setzten voll auf regionale und vor allem bedarfsgerechte Neuszenarien. Und die lagen nun mal bei der vorliegenden demografischen Entwicklung in der Altersvorsorge.
 
Dass Sebastian und Clivia sich damit zur neuen Zielscheibe für gegnerische Angriffe definierten, war ungewollt. Aber die alten Militaristen hatten endlich ein neues Feindbild. Es war zwar nicht mehr nur rot, aber da auch Sebastian im Visier stand, zumindest schon orange. Dass eine ehemalige linke Staatsrätin mit dem amtierenden linken Regierungsrat kooperierte, ging ja noch an, aber dass der bürgerliche Alt-Staatsrat die leidigliche Gesundheitsversorgung der Kleinregion kappen wollte, begriffen nur jene mit einem IQ über 100.
 
Auch Clivia wurde angegiftelt, wurde geschnitten. Eines schönen Morgens fand sie vor ihrer Haustür ein landwirtschaftliches Fuder deponiert. Heu wäre ja noch gegangen, aber es war – man glaubt es kaum – frischer Stallmist. Sebastian titulierte man als Schliesser des Spitals. Man lüftelte an seinen Autopneus und als dies nicht zum gewünschten Erfolg führte, traktierte man einen Gummipneu zweimal mit einem Stechmesser. Anonym, wie es sich gehört! Sebastian litt und Sebastian bezahlte zähneknirschend die Reparaturkosten. Aber beide, weder Clivia, noch Sebastian gaben ihren Plan auf. Im Gegenteil, sie hatten sich geschworen, nun das Ganze politisch durchzusetzen.
 
 


Die Vordenker beerben die Nachdenker
 
Der Gesundheitsdirektor, das Spitalamt, der Präsident des örtlichen Spitals, die Spitaldirektorin und die Chefärzte waren schon lange der Meinung von Sebastian und Clivia. Nur die öffentliche Meinung hielt sie davon ab, sich allzu heftig und zu direkt für eine Spitalschliessung zu exponieren. Sie betrachteten es als projektfördernde Massnahme, dass sie in den beiden örtlichen Nonkonformisten Clivia und Sebastian Unterstützung erhielten. Die Idee eine agierende Strategie einzuschlagen, behagte den involvierten Meinungsbildnern. Der Kanton errechnete, was ein solches Szenario kosten und was es bringen würde. Die Oekonomen waren nach mehrgleisigen Studien der Meinung, dass über eine Anstossfinanzierung in der Grössenordnung von 8 Millionen Franken zumindest diskutiert werden könnte.
 
Die kantonale Finanzkommission gab grünes Licht zu Verhandlungen und damit kam, nachdem Clivia und Sebastian in monate- und nächtelanger Kleinarbeit ihr Projekt definiert hatten, das regionale Vordenkergremium ins Spiel. Das Vordenkergremium begann endlich nachzudenken. Und nachdem es lange genug nachgedacht hatte, beschloss man, seiner Rolle als Vordenkergremium gerecht zu werden, das Projekt zu begleiten und damit den öffentlichen Fokus auf sich zu richten. Dass der Begriff „feindliche Übernahme“ in der Politik heute noch inexistent ist, sei hier nur am Rande erwähnt.
 
Das regionale Gremium liess  sofort den Bedarf, über den sich scheinbar noch kein eremitierter Vordenker Gedanken gemacht hatte, überprüfen und verkündete ein paar Wochen später, dass dringendst Handlungsbedarf angesagt sei. Die Fotos der kommunalen Politgrössen Kasser und Hartmann suggerierten dem kritischen Lesen die Ernsthaftigkeit und die inhärente Chance der Spitalschliessungsproblematik, allerdings ohne sich bereits zu vergeben. Vorgeschoben wurden Clivia und Sebastian, der zwischenzeitlich bereits den dritten Pneu an seinem Mini zu ersetzen hatte. Wohlverstanden, aus eigenem Sack! Die Pressenotiz über die Schliessungsidee löste ein mittleres Erdbeben aus. Die politischen Gegner machten mobil; und wie! Mit Leserbriefen aus allen Generationen von jung bis uralt, mit Erfahrungsberichten über positive Spitalerlebnisse, mit einer Flut an Inseraten versuchten die Gegner die Idee von Sebastian und Clivia zu bodigen. Doch das Projekt war stark und zum damaligen Zeitpunkt in der Schweiz so noch nicht realisiert.
 
Das Kompetenzzentrum für das Alter umfasste ein nach neuesten Erkenntnissen aufgebautes Alters- und Pflegeheim, ein nach der 3-Weltenmodell konzipiertes Heim für demente Menschen, eine Abteilung für Übergangspflege, die mit der Aktivierung kombiniert werden sollte, eine Physio- und eine Ergotherapieabteilung, eine Arztpraxis mit angegliederter Röntgenmöglichkeit und die regionalen psychiatrischen Dienste. Das Zentrum war zudem als Sitz der Pro Senectute und der Spitex-Dienste der Region vorgesehen.
 
Zu einem späteren Zeitpunkt sollte dann in der Nähe des Restaurants, das als Drehscheibe des generationenübergreifenden Dialogs funktionieren sollte, auch ein Laden für spezifische Bedürfnisse des Alters aufgebaut werden.
 
Die Befürworter und vor allem die Fachleute nannten das Projekt neuartig und richtungweisend. Sie versäumten nicht, ihr Hauptargument, dass der Bedürfnisnachweis durch die Projektverfasser erbracht wurde, medienwirksam einzusetzen. Die Gegner hingegen traten vehement aufs Bremspedal. Die Gummibremsspur in der Presselandschaft war rabenschwarz. Man drohte mit einem langjährigen Rechtsstreit, nötigenfalls bis zum Bundesgericht. Man forderte auf Kosten des Kantons eine Überprüfung des Projekts durch eine anerkannte Beratungsinstitution im Gesundheitswesen.
 
Diese Institution rühmte sich ziemlich grossmundig. Sie kenne praktisch jeden ausgewiesenen Experten im Gesundheits- und im Versicherungswesen. Sie könne Projekte optimieren und Kontakte knöpfen, versprach die Homepage.
 
Die Honorarforderung war gegen Sfr. 100'000. Das Resultat: am Projekt änderte sich nichts. Ein paar vage Adressen für allfällige Interessenten für eine Psychiatriepraxis, und damit hatte es sich. Die grossen Fische und die USP-Ideen schlüpften scheinbar durch die Maschen des zu weit gespannten Beziehungsnetzes. Eine Kiste in den Sand gesetzt!
 
Nun denn: der Steuerzahler merkte nichts davon. Im Regioland, insbesondere im heimischen Bezirk brodelte es. Beide Seiten kämpften erbittert um die Mehrheit. Da hatte Sebastian einen Gedankenblitz, der das Zünglein an der Waage bilden sollte.
 
 

Die verhängnisvolle Fehlüberlegung
 
Blenden wir zurück: Ende der Neunziger Jahre, also schon Jahre, bevor alles anfing, spürten Sebastian und sein Kollege, der Stiftungsratspräsident des Spitals, dass es für ein Regionalspital mit einem konventionellen Angebot im Bereich der Grundversorgung im Einundzwanzigsten Jahrhundert eng werden könnte. Sebastian gründete deshalb schon damals – also Jahre bevor alles anfing – einen Verein, der sich vertieft um die Zukunft des Spitals kümmern sollte.
 
Regionale Koryphäen aus allen Zweigen der Wirtschaft – Profit- wie Nonprofit-Organisationen - sollten in zwei bis drei Workshops Ideen entwickeln für ein neues Nischenangebot mit dem Ziel, dass möglichst viele der über 150 Arbeitsplätze erhalten blieben. Sebastian war der Vereinspräsident. Er reichte, um das Ganze finanzieren zu können, beim Lotteriefonds ein Gesuch über Sfr. 20’000 ein, dass vom Kanton auch umgehend bewilligt wurde. Die Workshops fanden statt; von den beteiligten Persönlichkeiten verlangte niemand ein Entgeld.
 
Zwei Jahre später: Das neue Projekt von Clivia und Sebastian war in aller Munde. Die Entscheidung nahte. Nur war es zwischenzeitlich nicht mehr das Werk der wirklichen Initianten, sondern die Idee des Vordenkergremiums. Vor allem zwei Gemeindepräsidenten - Kasser und Hartmann - engagierten sich stark, aber leider zu wenig medienwirksam. Sie mussten sich eingestehen, dass es wesentlich schwieriger ist, konservative Mitbürger von einem fortschrittlichen Projekt zu überzeugen als von sich selbst. Die Inseraten- und Leserbriefflut der Gegner machte vor allem Sebastian angst und bang. Die öffentliche Meinung stand auf des Messers Schneide, das spürte er intuitiv. Die persönlichen Positionen wurden jetzt bezogen. Die Bürger outeten sich langsam, gaben ihre Meinung auch öffentlich preis. Jetzt galt es zu handeln! Da kam Sebastian auf die rettende Idee. Vermeintlich!
 
Er erinnerte sich an die brachliegenden Gelder beim Lotteriefonds; er wusste, dass Clivia und er unzählige Stunden an der Erarbeitung des Projekts gearbeitet hatten. Auch der ganze Businessplan war das Werk von Sebastian allein und nie hatten beide, weder Sebastian noch Clivia, je einen Franken dafür verlangt. Wieso sollte er die Sfr. 20’000 nicht abrufen und dem Spital für Gegeninserate zur Verfügung stellen? Er weihte Clivia in diesen Plan ein; doch sie riet ihm davon ab. Sebastian wäre nicht Sebastian, wenn er den Schwanz eingezogen hätte. Den Tüsso-Sebascht der Schulzeit hatte er weit hinter sich gelassen. Wenn er einmal etwas im Kopf hatte, neigte er schon immer zur Sturheit. Er war zwar nicht so bockig, wie man nun meinen könnte, aber auch nicht so clever, wie er selbst es manchmal dachte.
 
Schlussendlich obsiegte, wie nicht anders zu erwarten war, der Militärkopf und er wagte den Einzelgang. Seine vertraute Ratgeberin, die Knorz-Eiche auf dem Deppenplatz konsultierte er nicht. Sie hätte wahrscheinlich Clivia recht gegeben. Er schrieb pro forma eine Rechnung für die gemeinsame Projektarbeit und rief das Geld ab. So kam es, dass der Stiftungsrat und die Befürworter plötzlich zu Geld für eine eigene Inseratenkampagne kamen. Die Gegner wunderten sich. Woher nahmen die Befürworter das Geld für ihre Inseratenkampagne? An einer Gemeindeversammlung in Maisingen wurde eine Anfrage eingereicht, die den Rat aufforderte, zu dieser Frage umgehend Stellung zu nehmen. Die anwesenden Medienvertreter spitzten nicht nur die Ohren, sondern gleich auch ihre Bleistifte. Man hatte den Fisch ungewohnt einfach an die Angel gekriegt; man brauchte ihn nur noch an Land zu ziehen und ihn mit einem gezielten Stockschlag aus den Verkehr zu ziehen.
 
So geschah es denn auch. Am nächsten Tag erkundigte sich die Tageszeitung bei Sebastian nach der Herkunft der Gelder. Naiv wie Sebastian war, legte die Herkunft offen und erzählte eine Stunde später im regionalen Pressebüro, die ganze Geschichte, wie er sie erlebt hatte. Nur die dümmsten Kälber, wählen bekanntlich ihre Metzger selber. An diesem Tag lieferte Sebastian der Presse Stoff für ein halbes Jahr. Das Vordenkergremium zeigte sich entsetzt – auch Hartmann und Kasser – die davon wussten. Der zuständige Regierungsrat liess bei der Finanzkontrolle eine Untersuchung einleiten, ob die Auszahlung der Gelder rechtens sei. Niemand ausser dem Präsidenten des Stiftungsrates setzte sich öffentlich für Sebastian ein. Seine Gegner, mit denen er im Dialog immer sachlich und trotz allem menschlich wertschätzend blieb, hielten sich mit der Kritik an seiner Person zurück. Nicht aber seine Mitstreiter. Sie haben nicht geredet, wo sie hätten reden müssen. Sie haben nicht geschrieben, wo sie hätten schreiben müssen. Sie haben nicht Stellung bezogen, wo sie hätten Stellung beziehen müssen. Aber sie haben alle geschwiegen, wo sie nicht hätten schweigen sollen. Seine ehemaligen Parteikollegen wollten ihn gar in seiner Funktion als Chef der von ihm aufgebauten Altersresidenz absetzen und erklärten ihm mit kameradschaftlichem Achselklopfen und perfekten sweet-and-sour-Lächeln, dass sie ihn nur zu seinem Besten damit aus der Schusslinie nehmen wollten.
 
Kasser und Hartmann umliefen ihn grossräumig und entwickelten Szenarien, wie sie sich das Projekt endgültig unter den Nagel reissen könnten. An seinem 57. Geburtstag erhielt Sebastian ein Schreiben der kantonalen Finanzkommission, die ihm mitteilte, dass er der Staatskasse Sfr. 18'500 zu überweisen hat. Damit war die Sache erledigt und die Geburtstagsfeier gelaufen. Das „Urteil“ sprach Sebastian zwar frei von deliktischem Handeln, verpflichtete ihn aber doch, die vorerwähnte Summe aus eigenem Sack zurückzuzahlen mit der Begründung, dass der Auftraggeber der Arbeiten von Clivia und Sebastian nicht der Verein war, dem die Gelder gesprochen wurden, sondern der Stiftungsrat des Spitals.
 
Für Sebastian war es ein Schock. Er interpretierte es als Undank für alles, was er für diese Region getan hatte. Er informierte umgehend seinen Kollegen und Mitstreiter, den Präsidenten des Stiftungsrates. Er war der einzige Aussenstehende, der Clivia und ihn stets unterstützt hatte; gedanklich, ideell, kreativ und innovativ. Er war auch jetzt der einzige, der tiefes Mitgefühl zeigte und versprach, ihm bei der Finanzierung dieser Rückzahlung zu helfen.
 
Und er hielt auch Wort! Er fand in den Folgewochen 17 Personen, die bereit waren, insgesamt 17‘500 Franken einzubezahlen, so dass Sebastian schlussendlich nur noch 1000 Franken aus eigener Kasse beizusteuern hatte. Wie der Präsident das geschafft hatte, darüber studiert Sebastian heute noch. Chapeau! Aber der Stachel sass tief, sehr tief. Nach einen halben Jahr als zweifelhafter Medienstar, nach öffentlichen Verunglimpfungen, nach verletzenden Äusserungen gegenüber der Familie, nach diversen Beschädigungen seines Eigentums hatten sie ihn soweit, dass Selbst- oder Fremdgefährdung langsam aber sicher sein nächstes Lebensthema wurde.
 

 
Die sanfte Ausgrenzung

 
Nachdem Sebastian monatelang versucht hatte, der Presse und dem Volk seine Position klarzumachen, gab er es auf, das Ganze mit dem logischen Menschenverstand lösen zu wollen. Alle seine Äusserungen wurden in den Medien negativ kommentiert und mit Fotos versehen, die die Leser bewegen sollten, Sebastian in ihre persönliche Memokartei der zwielichtigen Gestalten aufzunehmen. Statt besser oder ruhiger, wurde es immer gruseliger und ehrverletzender.

Eines schönen Tages beschloss er – sinnigerweise bei der Knorz-Eiche - die no-comment-Strategie. Von da an besserte es. Es brauchte einige Zeit, bis Sebastian begriff, dass man auch mit nichts tun zum Erfolg kommen konnte. In seinem bisherigen Leben antizipierte er stets. Agieren war sein Credo und nun reagierte er, ganz gegen sein Naturell.
 
Er zog sich aus der Öffentlichkeit zurück. Innerlich zwar immer noch schmollend, unverstanden und grummelig wollte er nun – starrköpfig und stur, wie er immer war -, all seine Kräfte der vermeintlichen Gerechtigkeit und seinem Lebensprojekt widmen. Dass er dabei in eine gedankliche Sackgasse lief, bemerkte er nicht. Er dachte dauernd im roten Bereich. Er, der zeitlebens ein stetes Unverständnis gegenüber den Dienstverweigerern an den Tag gelegt hatte, wurde nun selbst zu einem frustrierten Verweigerer, einem überzeugten, fast fanatischen Politverweigerer.
 
Seine ihm angeborene Kommunikationsfreudigkeit erstarb. Seine Seele zog vom Herzen aus und quartierte sich neu zwischen zwei Backen ein, wo es ihr wesentlich wöhler war. Sie fühlte sich getragen von zwei starken Beinen, war nahe beim Darm, und damit bei dem, was sie loswerden wollte und vor allem war weit weg von der eigenen Intelligenzia.
 
Sein Hirn entwickelte eine Eigendynamik begünstigt auch durch die Tatsache, dass sich die Seele in der Nähe des Arschs in einem neuen Selbstfindungsprozess befand und dadurch vor allem mit sich selbst beschäftigt war.
 
Das Hirn neigte plötzlich zu skurrilen, kriminellen Tagträumen, deren Hauptdarsteller repräsentativ für die ganze gegnerische Mafia Kasser und Hartmann und –wen wundert’s? – das verletzte und tief gesunkene Ego von Sebastian war. Dass er sich damit von der Gesellschaft sanft verabschiedete, war ihm zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst. Die Kraft seiner nirgends verbalisierten Gedanken war jedoch unglaublich stark; so stark, dass er sich quasi selbst abschoss.
 
Die Ausgrenzung von den anderen hatte begonnen und die Aussichtlosigkeit seines Kampfs nahm seinen Lauf.
 
 

Sebastians neue grosse, einsame Liebe
 
Sebastian hatte die Menschen um sich herum bis auf ein paar wenige abgehakt. Seine neue grosse Liebe war nun nur noch das Projekt. Jede freie Minute dachte er über sein vermeintliches Lebenswerk nach. Optimierte es, schaute Heime an, beobachtete demente Menschen, stellte bestehende Lösungen in Frage, studierte Fachliteratur, befasste sich mit der Farbenlehre, unterhielt sich mit Feng Shui-Spezialisten, gestaltete geistig den Garten, suchte Standorte und Themen für Kunstobjekte, hörte Querdenkern zu, studierte räumliche Anordnungen und Synergieeffekte; kurz: das Leben war ein suchendes Merry-go-brain in der kreativen Altersversorgung.

​Während Sebastian als Einzelkämpfer agierte, formierten Kasser und Hartmann ihr Mitläufer-Heer, das die gegnerische Armada versenken und vor allem auch den selbsternannten Kronprinzen Sebastian beerdigen sollte. Es wurden Untergruppen geschaffen, wie Bau, Personal, Businessplan, die zwar alle Antragsrecht hatten, jedoch ganz klar dem politischen Leitungsteam unterstellt waren, das allein entscheidungsberechtigt war. Sebastian und die beigezogenen Fachleute machten die Arbeit, die regionale Politkorona liess sich die Arbeiten unterbreiten, machte hie und da ein paar spärliche Detailkorrekturen und verkaufte hernach die Elaborate als eigenes Schaffen.
 
In dieser Zeit trat auch eine neue Protagonistin auf die Bühne: Madame Crettenans, eine dominante Femme fatale, ein Verschnitt zwischen Dämlich- und Fraulichkeit, Aber trotzdem oder gerade deshalb war sie zur öffentlichen Person oder vornehm ausgedrückt zum Original gereift gemacht. Nachdem das Volk in der kantonalen Abstimmung der Schliessung des Spitals und den damit verbundenen Krediten zugestimmt hatte und sich auch in den Gemeinden langsam eine Mehrheit zugunsten der Nachfolgeorganisation abzeichnete, tauchte sie aus der politischen Anonymität im meinungsbildenden Umfeld auf.
 
 

Der Bau einer politischen Abschussrampe
 
Das Projekt entwickelte sich gut. Die Zustimmung des Volkes war immer absehbarer und langsam nur noch eine Formsache. Sebastian fand es an der Zeit, sein Konzept über eine Führungs- und Verwaltungsgemeinschaft mit seiner Stamminstitution, der Altersresidenz diskutieren zu lassen. Er fand es insbesondere an der Zeit, da er in den letzten Monaten das Spital mit der ehemaligen Direktorin heruntergefahren hatte, und nun am Aufbau des Neuen war, sozusagen am Gebären seines Kindes, seines letzten Feuerwerks. Nun sollten seine Ideen realisiert werden, sein Traum schien trotz der harzigen Vorgeschichte in Erfüllung zu gehen.

 
Er wusste leider nicht, dass gleichzeitig Madame Crettenans im Hintergrund die politische Abschussrampe von Sebastian zu konstruieren begann. Sie war auch wie geschaffen dafür; denn sie kannte sich in den zwischenmenschlichen Sümpfen recht gut aus. Sie hatte den Charme eines üppigen Herbizids und sah auch so aus. Drähte wurden gezogen, Fäden gesponnen. Sie tauchte ihn in der öffentlichen Wahrnehmung in eine ihr vertraute Urwelt ein, in die Welt von Affairen und Alkohol. Zuerst in ihrem engsten Kreis, später in der aller Öffentlichkeit. Äusserst stillos zwar, aber sehr wirksam. Madame Crettenans auf Vormarsch! War sie der Politpflug für Kasser und Hartmann?
 
Am Frühlingsanfang am 21. März war es, als Sebastian es endlich checkte. Als er an einer Ausschusssitzung sein Konzept für eine Führungs- und Verwaltungsgemeinschaft der beiden Institutionen vorstellte und detailliert die Synergien aufdeckte, hörte Sebastian zum ersten Mal den verhängnisvollen Satz:
 
„Dies ist kein Thema; wir brauchen einen eigenen CEO!“
 
Ende Zitat! Keine Begründung, nichts! War auch gar nicht nötig! Kasser und Hartmann nickten einander äusserlich regungslos und doch ziemlich suffisant zu. Die anderen Mitglieder des Ausschusses schauten betreten drein und Kasser beendete das Traktandum, indem er – politisch vif – um Verständnis bat, dass das Grundsatzpapier vertieft analysiert werden musste. Das hielt ihn jedoch nicht davon ab, den Grundsatzentscheid zu erwirken, dass man die Stelle eines Direktors für das neue Zentrum ausschreiben musste.
 
Sebastian hatte gleich ein schlechtes Bauchgefühl und spürte intuitiv, dass ihm das Projekt aus dem Ruder gelaufen war oder anders ausgedrückt, dass sein Kind auf dem Weg zur Fremdadoption war oder gar schon ohne sein Wissen annektiert worden war.
 
 

Die Naivität kommt vor dem Fall

 
Sebastian hatte ein seelisches Tief; denn er spürte zum ersten Mal in seinem Leben eine gewisse Hilf- und Machtlosigkeit. Er sah, wie sich der Meinungsbildungsprozess im Leitungsgremium gegen ihn wendete und war kurz vor dem Kapitulieren, als er in den Folgetagen einen Aufsteller nach dem anderen erlebte. Praktisch alle Mitglieder des Leitungsausschusses ausser Kasser ermunterten ihn, sich zu bewerben. Selbst auch Hartmann. So bewarb er sich denn auch mit neuem Mut und grosser Zuversicht. Er gab sich wie er immer war, legte gegenüber dem beauftragten Headhunter seine Pläne offen, zeigte ihm seine Konzepte und vertraulichen Überlegungen und hoffte ihn als Verbündeten zu gewinnen.
 
So kam denn der Tag des Bewerbungsgesprächs. Sebastian kleidete sich gut und gab sich gesittet, nicht overgestylt, aber auch nicht ganz alltäglich. Als er beim herrschaftlichen Haus, wo die Headhunters domiziliert waren, läutete, wurde ihm trotz seiner grossen Erfahrung im Umgang mit sogenannten Autoritäten etwas flau im Magen. Er wurde von einer überaus charmanten Brunetten in Designerkleidern herzlich willkommen geheissen. Sie führte ihn in einen Nebenraum und offerierte ihm einen Espresso chicco d’oro, den er dankend annahm.
 
Aber nach langen zirka 20 Minuten im Kaphäuschen fühlte er sich wie bestellt und nicht abgeholt. Er nahm eine Illustrierte, las oberflächlich einen Artikel über Mobbing beim Staat und wusste nach Beendigung seiner Lektüre überhaupt nicht, was er eben gelesen hatte. Gedanklich war er beim Vorstellungsgespräch und er fragte sich, was er seinen Interview-Partnern noch sagen könnte, was nicht schon gesagt war. Aber alle Karten, die er hatte, wollte er noch nicht ausspielen. Er wollte noch ein paar Trümpfe in der Hinterhand behalten. Man weiss ja nie!
 
Zwischenzeitlich war der Kaffee kalt und Sebastian war ob der langen Wartezeit etwas knatschig geworden. Er fühlte sich wie ein Vertreter in einer Arztpraxis und das machte ihn stinke sauer. Gerade als er zur Erkenntnis kam, dass dies ihm gegenüber eine Wertschätzung aus der untersten Schublade war, rauschte die charmante Brunette wieder in den Warteraum und bat ihn zum Vorstellungsgespräch. Der Raum war gross und herrschaftlich. Die Sitzanordnung erinnerte ihn an ein Tribunal. Hinter der Tischreihe der Richter im „Talar“, natürlich Kasser, rechts neben ihm Hartmann und zwei weitere Geschworene und links nochmals drei. Die beiden Gerichtsschreiber der Headhunter-Firma sassen seitlich von Sebastian und protokollierten unablässig Gesagtes und interpretierten Ungesagtes.
 
Das „Gericht“ bombardierte ihn mit Fragen, die er den „Geschworenen“ in den letzten Monaten schon mehrmals beantwortet hatte. Sebastian hielt sich tapfer und lief unerwartet zu einer Hochform auf. Nach gegen einer Stunde wurde die Session aufgehoben. Sebastian war trotz den fragwürdigen Begleitumständen hoch zufrieden und ging erhobenen Hauptes von dannen.
 
Er war sehr zuversichtlich, dass er die Weichen richtig gestellt hatte. Er genehmigte sich auf dem Heimweg in seinem Lieblingslokal bei Chez Sophie noch zwei Gläser Amarone und schlief schon am frühen Abend selig und selbstzufrieden ein. Dass er am nächsten Tag noch keinen Bescheid erhielt, beunruhigte ihn nicht weiter. Gut Ding will Weile haben!




Zu den martialischen Trieben  
... oder die verheerenden psychopatischen 
Realitätsverzerrungen
 
 

Die  Schlammschlacht beginnt
 
Am frühen Morgen, es war der 3. September, krächzte in unmittelbarer Nähe seines Einfamilienhauses penetrant eine Krähe. Sebastian nahm das als böses Omen. Und als er die Zeitung aus dem Briefkasten geholt, sie aufgeschlagen und angefangen hatte zu lesen, stockte ihm der Atem. Sie hatten gewählt. Knallhart!
 
Der CEO des neuen Kompetenzzentrums für das Alter stand fest.
 
Sie hatten ihn abgeschossen.
 
„Das darf doch wohl nicht wahr sein!“
 
Die Bestätigung starrte ihn förmlich an. Die vollfette Überschrift auf der ersten Regioseite liess keine Zweifel aufkommen. Übergangen! Blattschuss! Weg von der Vegetation! Abrasiert, ausgebeamt! Sein Werk! Von anderen erbeutet, annektiert und einverleibt! Und kein Mensch hatte ihn informiert! Keiner hatte ihn vorgewarnt!
 
Sebastians Magen verkrampften  sich. Wutentbrannt zerknüllte er das Blatt und warf es in das taufeuchte Gebüsch seines Nachbarn. Lautlos wie eine Seifenblase zerplatzte in der Morgenstille sein grosser Traum. Sein Projekt, in das er seit Monaten all sein Wissen, all seine Kraft und Kreativität investiert hatte und das er gerne als Leiter geformt und in die Zukunft begleitet hätte, hatten sie verraten. Sie hatten es an einen anderen weitergegeben, ohne ihn zu informieren. Sein Blut kochte wild und sein gefährlich schwaches Herz trommelte wie ein Presslufthammer. Er taumelte vor Wut und Schweisstropfen rannen ihm in die Augen. Oder waren es gar Tränen? Eine unbändige Wut überkam ihn auf Gott und die Welt, vor allem aber auf diese sackverdrehten, kleinbürgerlichen Meuchelpolitiker. Diese verdammten Schmarotzerschweine! Opportunistenpack! Wo bleibt da Gottes Gerechtigkeit? In der Hitze des Gefechts war ihm ganz entfallen, dass er als agnostisch denkender Gelegenheitsesoteriker Gott ja wohl kaum verantwortlich machen konnte für sein Unglück. Umso schlimmer! Nun war Eigeninitiative gefragt bis zur düstersten Ecke seiner Seele.
 
„Diese fiesen Schlammsäcke! Die werden mir das noch büssen“, knirschte er, „Ich bring sie alle um. Jeden einzelnen von diesen Klugschwätzern bringe ich auf die Totentafel, und zwar mit Genuss!“
 
Fliegenpilzgift fiel ihm ein, auch Digitalis aus dem Fingerhut in seinem Garten. Den gab es zur Genüge. Seine alte Armeepistole fiel ihm ein und das halb verrottete Rattengift aus dem Nachlass seines Schwiegervaters.
 
„Ich kille alle ihre Katzen, vergifte ihre Magnolien, sprenge ihre Luxuskarossen in die Luft, so quasi als Vorspeise!“, knurrte Sebastian, „Und dann die Schweine selbst, einer nach dem anderen und, wenn es sein muss, als Dessert noch ihre Weiber, ob angetraut, sexuell oder finanziell verbunden. Alles und alle weg! Ratzekahl!“
 
Sebastian war zum Äussersten entschlossen.
 
Mit einer katzenhaften Behendigkeit, die er sich in seinem Alter gar nicht mehr zutraute, sprang er von seinem Sessel auf, stürmte aus dem Zimmer, knallte die Tür zu und sah im Bruchteil einer Sekunde, wie er damit Hartmann geistig zerquetschte. In drei, vier Sätzen war er die Treppe runter, riss die Haustüre auf und zermalmte dann gleich noch Kasser, dessen Wahlkampflächeln unter einem ohrenbetäubenden Knall in den Türscharnieren erstarb und zu einer bas erstaunten, grausigen, vom Tode gezeichneten Fratze wurde.
 
Sebastian stürmte in das Freie, er weinte hemmungslos. Immer wieder. Er riss die Tür seines roten Mini auf, steckte den Schlüssel in das Lenkradschloss, startete den Motor, liess ihn zwei-, dreimal aufheulen und fuhr dann direkt in den nahen Wald. Nur keine Menschen, schon gar keine Politiker, nur Natur pur wollte er. Zu sich zurückfinden! Wieder in die innere Balance kommen. 
 
Pflanzen helfen bekanntlich heilen, das wusste Sebastian schon lange, nicht erst seit er vor ein paar Monaten das Buch „Bäume helfen heilen“ geschenkt bekommen hatte. Ganz unbewusst steuerte er seinen Ort der Kraft, den Deppenplatz an. Wenn schon Menschen, dann wäre er wenigstens unter Seinesgleichen.
 
Als er eine halbe Stunde später bei der mächtigen Knorz-Eiche, seinem Lieblingsbaum angekommen war, war gottlob keine Menschenseele zu spüren, geschweige denn zu sehen. Es war 09.10 Uhr, als sich seine Hirnzellen einzeln wieder zurück zu melden begannen. Zögerlich zwar und äusserst dunkel im Inhalt. Aber eines hatten sie gemeinsam, sie schworen sich Rache, tödliche Rache! Alle Zellen zusammen unisono und dies war ganz im Sinn von Sebastian.
 
 

Die soufflierende Knorz-Eiche 
 
Sebastian sass, nachdem er seine Nichtwahl in den regionalen Medien immer wieder lesen und die Mutmassungen ihrer Gründe zur Kenntnis nehmen musste mit seinen mittlerweile knapp 60 Jahren wieder mal auf der morschen Waldbank, die der örtliche Verkehrs- und Verschönerungsverein vor zirka einem Vierteljahrhundert aufgestellt hatte. Seine innere Unruhe, seine Gewaltbereitschaft quittierte die alte Holzbank mit einem lauten Ächzen. Die linke Armlehne knackte, stöhnte und sträubte sich lauthals, die 84 kg Lebensgewicht von Sebastian, der apathisch in der Bank hing, abzustützen.
 
Nach dem niederschmetternden Sitzversuch richtete sich Sebastian‘s Seele nach ein paar Minuten der Gefühlagonie langsam wieder auf und dachte über seine Lebensphilosophie – so er überhaupt noch eine hatte – äusserst lustlos und vom Leben angewidert  nach. 
Mit seinem LoL2A-Prinzip war er in eine Sackgasse geraten. Lo, d.h. loslassen konnte er schon gar nicht nach dieser Gewaltverletzung, die sein Lebenswerk hätte krönen sollen. Von L2, Liebe im Quadrat, blieb gerade mal das Quadrat. Liebe wurde ersetzt durch eine Auswahl von obszönen Worten, von deren schliesslich für Hartmann und Kasser ein paar kräftige, unpublizierbare Ausdrücke der Spitzenkategorie obsiegten. Einzig mit dem A, actio = reactio hatte Sebastian kein Problem. Alles kommt zurück: gnadenlos, „fadengerade“ bis zum bitteren Ende. Ein tröstlicher Gedanke! 
 
Bleibt noch offen, wer die Quittung präsentiert, ob er oder ein Anderer, ob Gott oder gar das Leben schlechthin.
 
Er betrachtete seinen Kraftbaum, die Knorz-Eiche. Gemäss uralten volkstümlichen Überlieferungen ist die Eiche der Baum des gesetzmässigen Handelns, der alte Gerichtsbaum unserer Ahnen. Die Eiche ist aber auch der Baum der Weissagung. Sie regt den Menschen an, über sich selbst nachzudenken und ordnet die Gedanken, meistens jedenfalls. Heute jedoch  nicht! Der Baum schwieg, blieb stumm. Wahrscheinlich war er am Ordnen seiner eigenen Gedanken und Überlegungen. Er hatte sich seine Meinung scheinbar noch nicht gebildet. Der alte Gerichtsbaum verbat sich ein Urteil im Schnellverfahren.
 
Dies werteten Sebastian und seine Hirnzellen fälschlicherweise als stille Zustimmung. Sie einigten sich darauf, das Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und begannen, einfache zerstörerische, ja selbst Mordszenarien zu skizzieren. Rufmord verwarfen sie. Man soll Gleiches nicht mit Gleichem vergelten. Das ist kleinkariert und ziemlich stillos. Zudem legt es Zeugnis ab von einem äusserst durchschnittlichen IQ. Ein Attentat wäre zu risikobehaftet. Und gerade auf zwei Personen gleichzeitig? Beinahe ein Ding der Unmöglichkeit! 
 
Sebastian dachte nach. Vielleicht sollte man auch hier Prioritäten schaffen. Wer war schlimmer, wer hatte ihn tiefer verletzt? Wer war die graue Eminenz, wer war der wahre Drahtzieher? Hartmann oder war es Kasser oder gar eine andere Person im dunklen, nicht wahrnehmbaren Hintergrund? Politiker kannten keine Skrupel und schreckten in der Regel vor nichts, aber auch rein gar nichts zurück. Weil Sebastian nicht wusste, welchen von beiden er ins Visier nehmen sollte, entschied er sich schliesslich gleich beide von der Politbühne verschwinden zu lassen, auszuradieren und gnadenlos auszurotten.
 
Die mächtige Knorz-Eiche im Hintergrund plusterte beim nächsten Windstoss ihren verästelten Prachtstamms, ihre Äste und Zweige kurz auf und raschelte heftig mit ihren buchtigen Blättern. Sebastian deutete dies als Beifall und Zeichen, dass er auf dem rechten Weg war. Er stand auf, umarmte den Baum innig und stark. Die Antwort war klar und eindeutig. Er meinte, es auch körperlich zu spüren. Für ihn gab es in dieser Frage keine Zweifel.
 
 


Ein Zwiegespräch mit der Seele
 
Sebastian erstaunte die Antwort seiner Knorz-Eiche nicht. Im Innersten hatte er es schon lange gewusst. Er selbst war nur Mittel zum Zweck. Er war zwar die Quelle des Knowhows. Aber in diesem Theater spielte nicht er die Hauptrolle, wie er zunächst meinte, sondern höchstens die der schönen Kulisse, die man braucht oder bestenfalls die des Souffleurs, der im Kasten versenkt, still, leise und unhörbar den Nichtwissenden und Vergesslichen zuflüsterte, wie sie ihre Rolle zum persönlichen Erfolg zu Ende zu spielen hatten. 
 
Oder anders ausgedrückt: Wenn der Vorhang aufging, kamen die Politschauspieler auf die Bühne und die spielten ihre einstudierte, fremd an- und ausgedachte Rolle nach bestem Wissen, aber ohne geringstes Gewissen. Gewohnt im Rampenlicht zu stehen, kooperierten sie bei win-win-Situationen, verbrüderten oder verschwesterten sich beim gemeinsamen Kampf gegen einen vermeintlichen Gegner, missgönnten aber der „Kollegin“ oder dem „Kollegen“ jeden Lichtstrahl auf den öffentlichen Brettern oder jede Zeile im grossen Medienwald. Mit dieser Sorte Menschen hatte Sebastian nun endgültig abgeschlossen. Das musste er nicht mehr haben.
 
Das mit dem Ausnützen war vorbei; es war an der Zeit, mal ein Exempel zu statuieren. Die Frage war bloss wie? Das Wann interessierte Sebastian im Augenblick noch nicht. Er hatte Zeit zu warten. Was war es eigentlich, das ihn so tief verletzt hatte? Und wieso ging das so tief, dass ihm immer, wenn er Kasser oder Hartmann sah, übel wurde. Jedes Mal, wenn er das Areal des ehemaligen Spitals betrat, schnürte es ihm den Magen zu, weil das, was er in den letzten Jahren um dieses Haus herum zu erdulden hatte, schlicht ungeniessbar, nicht zu verdauen und infolgedessen auch zum Kotzen war. Nur schon der Gedanke, über die ganze Geschichte nachdenken zu müssen, setzte seine Seele in Brand. Sein ganzer Körper und sein Geist dürsteten nach einer aggressiven Entladung. 
 
„Nimm dich zurück!“
 
sagte er sich immer wieder! Tag für Tag, praktisch in Stundentakt! Dann kam er langsam zurück in seine innere Balance und hatte sich zumindest vorübergehend wieder einigermassen im Griff. Die Emotionen des langsam wachsenden, bösartig narzisstischen Psychopathen schienen sich verzogen zu haben. An die Oberfläche kam langsam aber sicher wieder die Ratio des ehemaligen Majors, des Militärkopfs, der es gewohnt war, in solchen Situationen sein Denkschema auf die Ziffer 89 der Truppenführung, einem altschweizerischen Militärreglement,  zu fokussieren. 
 

 
Sebastian orientiert sich nach militärischer Art
 
Ja, eine Orientierung zu formulieren, ist nicht ganz einfach. Auch als altgedienter Vaterlandskämpfer mit über 1000 Diensttagen hatte Sebastian immer noch Mühe, eine Orientierung vernünftig und vor allem allgemein verständlich zu formulieren. 
 
Er war es sich in seiner militärischen Laufbahn gewohnt gewesen, dass die vorgesetzte Stelle sagt, um was es geht. Jetzt musste er es tun. Das schiss ihn an; d.h. merken, um was es geht, d.h. analysieren, d.h. den Zuhörer, den Leser auf seine Seite bringen, d.h. Feindbilder zu schaffen, d.h. das Blaue glaubhaft zu machen. Früher kam der Feind stets aus dem Osten und war rot. Wir waren blau – nicht nur im Ausgang - und merkten nicht, dass wir lange Zeit auch stets zu blauäugig waren.
 
Doch nun zur Sache! Es war nun mal so, sie hatten ihn ausgemustert, nicht militärisch, sondern geschäftlich, politisch und privat. Kasser, Hertmann und die anderen. Was war schief gelaufen? Je länger er darüber nachdachte, je mehr musste er sich eingestehen, dass er ganz einfach zu naiv gewesen war. Von Anfang an! Wo blieb seine sprichwörtliche Sensibilität? Warum hatte er seine Blicke stets auf zehn Jahre voraus gerichtet und nahm nicht wahr, was im Hier und Jetzt geschah? Warum bemerkte er nicht, dass Kasser und Hartmann ihn als CEO gar nie wollten? Auch das Bewerbungsgespräch bei den Headhunters war rückblickend eine Farce, die er hätte durchschauen müssen.
 
Warum z.B. hatte die beauftragte Firma mit ihm kein strukturiertes Vorgespräch gemacht? Warum hatte sie ihm keine Aufgaben gestellt, die er unter Zeitdruck zu erledigen gehabt hätte? Seine grosse Stärke, schnell zu reagieren und Prioritäten zu setzen, wurde gar nicht ausgelotet. Sie verzichteten bei ihm auf eine Persönlichkeitsanalyse und auf eine Insight-View; sie wollten keinen Strafregisterauszug, keine Auskunft vom Betreibungsamt. Referenzen wurden nicht erfragt. War er überhaupt wirklich je in der engeren Wahl gewesen? Oder hätten die Headhunters bei der Wahl eines internen Kandidaten eventuell nicht 30 % seines Jahresgehalts oder gar noch mehr absahnen können? Solche und ähnliche Gedanken gingen Sebastian durch den Kopf. Je länger er darüber nachdachte, desto mehr geriet sein Blut in Wallung. Er konnte weniger denn je diese Geschehnisse akzeptieren.
 
Er musste handeln. Das spürte er intuitiv. Die inneren Zwänge waren so gross, dass Sebastian plötzlich wieder altbekannten Symptomen begegnete: Herzklopfen, Atembeschwerden und Schweissausbrüche. Wenn er nun nicht agieren würde, würde er sein Gesicht verlieren, vor seiner Umwelt und vor allem vor sich selbst. Das Profil des selbstlosen Zudieners von karitativen Dienstleistungen wollte er sich, wenn überhaupt, ab sofort und konsequentestens für sein Rentenalter aufbewahren. 
 
Nachdem er die aktuelle Lage überdacht hatte, entschied er sich, die Übung abzubrechen, eine weitere Projektunterstützung zu verweigern und das über Monate und zum Teil Jahre aufgelaufene und selbst erarbeitete Knowhow für sich zu behalten. Er kündigte im Folgemonat sein zeitlich limitiertes Mandat beim ehemaligen Spital und quittierte den Dienst, nicht ohne zuvor all seine Arbeiten kopiert und seine Bemühungen notiert zu haben. 
 
Vorbei ist vorbei, dachte er; Geschehenes kann nicht rückgängig gemacht werden. Es nützt niemandem etwas, zu jammern und zu lamentieren, am allerwenigsten ihm selbst. Die Lebensspanne ist gleich lang, ob man sie lachend oder weinend verbringt. Aber das heisst noch lange nicht, dass man nicht grollen und Szenarien entwickeln kann, die Balsam für eine verletzte Seele sind.
 
Nach dem Abwägen der eigenen und der feindlichen Möglichkeiten kristallisierte sich Sebastians Absicht heraus: Er wollte einen brutalen Gegenschlag aushecken, der den Hauptschuldigen an den Kragen oder genauer ausgedrückt: ans Lebendige ging. Wirklich ans Lebendige, im wahrsten Sinne des Worts.
 
Der perfekte Mord hatte ihn schon immer interessiert. Sebastian war im Innersten überzeugt, dass es ihn gab, obschon in der Öffentlichkeit und in den Medien immer wieder das Gegenteil behauptet wird. Dass aber ein solches Unterfangen in der heutigen Zeit immer wie anspruchsvoller und schwieriger wurde, war auch ihm klar. In den letzten Jahrzehnten hatte die Kriminologie enorme Fortschritte gemacht. 
 
Die Fingerabdrücke, die DNA-Analysen bis hin zu den genetischen Spurensicherungen setzten jedem rechtschaffenen Verbrecher gewaltig zu. Trotzdem wollte sich Sebastian nicht mit einem einzigen Mord zufrieden geben; seine grosse Herausforderung war der perfekte Doppelmord an zwei verschiedenen Tatorten. Er gab sich genügend Zeit. Spätestens bis Ende nächsten Jahres sollten seine Mordplanungen abgeschlossen sein. Den Tatvollzug liess er weiserweise noch offen. Auch Jesus hatte lange leiden müssen, bis er erlöst wurde.

 
 

Die Seele weigert sich
 
Ein paar Monate später - Ende Januar - war Sebastian keinen Deut weiter. Seine Seele weigerte sich wider Erwarten strikt, beim Projekt mitzumachen, ganz im Gegensatz zum Verstand, der keine Skrupel hatte, Mordszenarien auszuhecken. Dass die Seele immer wieder störend eingriff, hatte wahrscheinlich mit Sebastians christlicher Jugend zu tun. Er nahm das Ganze als gegeben hin, dachte aber nie daran, seinen Plan aufzugeben.

Vielleicht musste man der Seele Zeit lassen, sich an Sebastians zerstörerische Szenarien zu gewöhnen. Vielleicht aber war die Seele auch nicht von losen Gedankengängen zu überzeugen, sondern erwartete eine geschlossene, detailliert durchdachte, in sich abgeschlossene, vernetzte Handlungsabfolge, die den Erfolg quasi per se garantieren musste. Ein voreiliges Placet erteilte die Seele nicht.
 
Am 23. Februar – es war ein windiger Tag – krähte kurz nach 10 Uhr wieder mal eine Krähe. Das Ganze erinnerte ihn an den 3. September des Vorjahres, an den Tag seines persönlichen Crashs, und er lief besorgt zum Briefkasten. Ein neues Omen? Sebastian entnahm dem Kasten die Tageszeitung, einen Lidl- und einen Aldi-Prospekt, einen Feriengruss seines Kollegen und die Coop-Zeitung. Alles beinahe Alltäglichkeiten, nichts Besonderes. Sebastian war erleichtert, aber auch gleichzeitig enttäuscht, dass seine Wahrnehmungen und Empfindungen nicht der Realität entsprachen.
 
Er atmete tief durch und beschloss, seine miese Laune auf dem Deppenplatz etwas zu lüften. Er stieg in seinen roten Mini, knallte die Türe zu und stellte das Radio auf Lautstärke 32. Gianna Nannini liess mit ihrer rauchig-heiseren Stimme den Äther wieder einmal erschaudern. Sie krächzte in ihrer ganz speziellen Art etwas Unverständliches, aber ungewöhnlich Powervolles aus dem Lautsprecher und Sebastian folgte ganz gebannt ihrem Song, der aus seiner Seele hätte stammen können. Auf dem halben Weg, gab er die Idee mit dem Deppenplatz auf und entschloss sich, bei der St. Martins-Kapelle Halt zu machen. Die kleine Kapelle lag einsam und verlassen im Schilf; etwa so, wie er sich gegenwärtig fühlte.
 
Er fragte sich, ob das kleine Gotteshaus von Zeit zu Zeit nicht auch eine Abwechslung gelüstete, eben so etwas wie Gianna Nannini, wie Tina Turner oder die Rolling Stones. Über Jahre hinweg nur sakrales Leben und sakrale Musik und heilige Messen. Stinklangweilig! Das muss, meinte er, über kurz oder lang tödlich sein. Und trotzdem stand die alte Kapelle nach immer noch da. Jahrhunderte lang hatte sie das ausgehalten.
 
Sebastian würgte den Motor des Mini ab, das Radio liess er weiter laufen, auf Hochtouren! Er öffnete das Kappellenportal und setzte sich auf die hinterste Bank. Er lauschte der zwischenzeitlich aus der Lautsprecherbox dröhnenden Heavy Metal-Session wie in Trance zu. Gerade als Alice Cooper zu einem gellenden Rush ansetzte, riss ihn das nahe Bellen eines streunenden Hundes aus seinem komatösen, schlafähnlichen Zustand. Sebastian war auf einen Schlag wieder in der Gegenwart angekommen. Die Realität durchkreuzte seine luzid-dunklen meditativen Gedankengänge so sehr, dass er für einen Moment die Chronologie der Ereignisse nicht ganz zu rekonstruieren vermochte. Er stand von seiner abgewetzten Bank auf, starrte auf die gelben Herbstblätter, die der Wind hereingeweht hatte und fühlte sich wie sie. Abgefallen, verwelkt, kraftlos, auf dem Weg zur natürlichen Kompostierung.
 
Missmutig und müde schlürfte er ein paar Meter zu einer Birke in der Nähe, umarmte sie zum Abschied, dankte ihr für das soeben Erlebte und sah im selben Augenblick im Schatten ihres Baumkörpers zwei riesige, schon von Würmern angefressene Fliegenpilze. Da überkam es ihn, blitzartig und unvorbereitet. Sie mahnten ihn an Kalo und an Kasser: Lebensbedrohende Giftigkeit im schönsten Gewand! Seinem Drang, die beiden Pilze mit gezielten Fusstritten umzuhauen, widerstand er aus Pietätsgründen. Er hielt missmutig Ausschau nach seinem roten Mini und verliess nach wenigen Minuten den sakralen Ort seiner ersten zerstörerischen, dämonisch angehauchten Exerzitien.
Nachdem sich Sebastian ein paar Tage in seinem Elend und gleichzeitig in seiner kriminellen Phantasie gesuhlt hatte, holte ihn der Alltag wieder ein. Über das Wochenende hatte er einen ersten Gedankenblitz, über den es sich zu nachdenken lohnte.
 


Sebastian’s morbides Horrorarium
 

Sebastian verwarf am Sonntagmorgen den Kirchenbesuch und googelte den Begriff „seelische Grausamkeit“. Er kam bei der Lektüre nicht viel weiter. Seelische Grausamkeit oder emotionale Verletzung, atomarer Angriff auf die Seele oder karzinöse Samen gegen das körperliche Wohlbefinden? Nachhaltige Psychocrashes oder schleichende Demenz des Ego? Hinführung zum Nullpunkt oder schockartige Heranführung zur finalen Lebensphase! Irgend so was war seelische Grausamkeit und Sebastian entschloss sich, am nächsten Morgen, vorerst auf diese Karte zu setzen.
 
Begünstigt wurde seine Entscheidung wahrscheinlich durch einen nächtlichen Horrortraum. Kasser und das Hartmann forderten ihn zum Kampf heraus. Kasser, kraftstrotzend und aalig-oelig bodygebuildet; Hartmann, gross, schmal und ausgehungert in einer mittelalterlichen Rüstung mit Hellebarde und Schwert im sehnigen Griff. Sebastian mit leicht schwabbeliger Figur geschützt nur durch eine weisse Unterhose, deren Alter man bei genauerem Hinsehen anhand einiger Nahtrisse erahnen konnte.
 
Sebastian wusste, er hatte keine Chance. Zwei Übermächtige gegen einen Halbnackten. Je bedrohlicher sich die Lage zuspitzte, desto kleiner wurde er. Und eben als er sich unter einem Kieselstein verstecken wollte, erwachte er. Bachnass mit schwer gestresstem, hämmerndem Hinterkopf.
 
So geht man mit Sebastian nicht um, dachte er, nicht mal im Traum. Die Entscheidung fiel ihm leicht. Jetzt galt es zu planen. Jetzt musste er handeln. Jede freie Minute dachte Sebastian über Tathergänge und über mögliche Mordszenarien nach. Auf dem Weg zur Arbeit, während der Arbeit, am Feierabend, am runden Tisch und vor allem nachts im Bett. In der Horizontalen war er um Etliches kreativer als in der Vertikalen. Und bisweilen hatte er katastrophal böswillige Eingebungen. Nach circa zwei weiteren Monaten hatte er sich ein Grobkonzept ausgedacht. Er wollte immer noch - wie früher angedacht - voll und ganz auf die seelische Grausamkeit setzen. Er wusste, dass seine Vorstellungen noch Flickwerk waren; Bastelarbeit, die noch professionalisiert werden musste. Aber er war auf dem richtigen Weg.
 
Jetzt galt es - und das wollte er – mehrere Mordszenarien vorzuspuren und im Detail zu definieren, die Tatorte zu bestimmen und vor Ort das Detail zu rekognoszieren.
 
Sebastian hatte Zeit; alle Zeit dieser Welt; denn der Tatbestand der seelischen Grausamkeit war für Sebastian ein Langzeitprodukt, war nicht eine Frage von gezielten kurzfristigen Stichen ins Herz. Das waren für ihn lange dauernde, tiefe, kaum heilbare Verletzungen. Seelische Grausamkeit muss zehren, muss nagen, muss auffressen. Seelische Grausamkeit soll zerstören, soll Lebensfreude beerdigen, den Charakter  zersetzen und den Lebenswillen zermalmen. Und so schnell geht das nun wirklich nicht! Und soll es auch nicht!

 
 

Besuch im Kloster St. Mühleberg
 
Bruder Anselm machte sich an einen trüben Frühlingstag um vier Uhr morgens daran, seine tägliche hauswirtschaftliche Arbeit in Angriff zu nehmen. Als einer der etwas älteren Garde hatten sie ihn vor allzu strengen körperlichen Arbeiten befreit und ihm das Reinigen der Herz-Jesu-Kapelle anvertraut. Er machte dies nun schon seit Jahren, wie ein Ritual, immer gleich. Die Putzutensilien waren immer die gleichen, die geputzten Objekte dieselben, sogar die Reihenfolge blieb über die Jahre hinweg sakrosankt. Alles hatte seinen geregelten Ablauf. Und das ödete ihn langsam an. Alles war ihm so vertraut. Wären die Eintagsfliegen nicht Eintagsfliegen, er hätte sie alle gekannt. Er begab sich etwas missmutig in die Putzkammer und holte den Staubsauger.
 
Anselm hatte gleich ein ungutes, ihm fremdes Gefühl, das er sich nicht erklären konnte. Irgendetwas Furchterregendes lag in der Luft. Kloster hin oder her. Als er mit seinem Besen und seinem Kessel vor der Basilika stand, wie er sie immer nannte, drückte der Raum enorm, beinahe körperlich. Drohte er zu explodieren oder zu implodieren? Total verunsichert, öffnete er die Tür.
 
Er sah es gleich, sofort. Das grellrote Lendentuch aus Kunststoff am Jesu-Kreuz stach tief in seine pastoralnahe Seele. Jesus litt stets, seit er im Kloster wohnte, allein und unauffällig am Kreuz. Selbst sein einst vergossenes Blut war immer dunkelrot und leicht angestaubt gewesen und hatte nichts zu tun mit der ihm nun entgegen starrenden, aufgeladenen neuzeitlichen Polyester-Aggressivität, die die ganze Glaubens- und Leidensgeschichte von Jesus in den Hintergrund rückte. Schlimm oder noch schlimmer war das etwa 30 cm lange Bruchstück einer verunreinigten, rostigen Velokette, das sich im Dornenkranz von Jesus eingenistet hatte.
 
Bruder Anselm atmete tief durch und kniete auf die erste Fuss- oder Kniebank nieder. Er bat Gott um eine Erleuchtung. Doch Gott schwieg! Zum ersten Mal seit Jahrzehnten. Vielleicht dachte er auch, dass nun wirklich mal die Zeit gekommen war, wo Anselm selbst zu entscheiden hatte.
 
Anselm tat sich schwer. Er tat vorerst seinem Naturell entsprechend mal gar nichts und setzte sich auf die zweitletzte Bank, die ihm etwas Distanz zum Erlebten geben sollte. Dann fiel ihm ein, dass es zwar nicht wahrscheinlich, rein theoretisch aber doch möglich sein könnte, dass ein Fremder, ein Irrer oder gar ein Attentäter sich noch in den Klostergewölben aufhalten könnte. Auf leisen Sohlen schlich er sich zur Kappellentür und schloss sie gleich zwei Mal ab. Sicher ist sicher! Zu ist zu!
 
Dann begann er mit dem Rosenkranz. Wie viele Male er sich durch die Glieder getastet hatte, wusste er beim Tagesanbruch nicht mehr. Aber als es draussen heller wurde, sah er langsam auch wieder ein bisschen klarer. Er beschloss kurz vor sechs Uhr, das Ganze dem Abt anzuvertrauen. Gerade als er die Herz-Jesu-Kapelle durch den kleinen Seiteneingang verlassen wollte, entdeckte er auf den Boden einen kleinen Zettel. Er hob ihn auf und las:
 
„Hüte Dich beim Wandern vor hölzernen Kreuzen! U.“
 
Anselm wurde flau im Magen. Obschon er noch nicht gegessen hatte, verspürte er einen leichten Brechreiz. Er liess den Zettel fallen, verliess fluchtartig die Basilika und steuerte die Gnadenkappelle an, von wo aus er mit dem Lift direkt in das 2. Geschoss gelangte.
 
Der Abt residierte etwas luxuriöser als die anderen Fratres. Aber das war sein gutes Recht, das ihm niemand missgönnte oder gar strittig machte. Benedikt war sehr beliebt. Gross und schlank, ohne asketisch zu sein. Vif im Geist, ohne pfaffenhaft zu wirken. Nahe beim Volk, ohne anbiedernd zu sein. Entscheidungsfreudig, ohne überhastete, vorschnelle Schnellschüsse. Kurz: eine gelassene, volksnahe kirchliche Respektsperson.
 
Abt Benedikt, der eben seine schlaftrunkene Stimmung mit einer kalten Dusche vertrieben hatte, hörte Bruder Anselm aufmerksam zu. Er war so wach, wacher war er noch nie. Er merkte sich jede Aussage, jedes Detail, jede Mimik, jede Gefühlregung von Anselm. Das Ganze stimmte ihn sehr nachdenklich.
 
Benedikt liess sich circa zehn Minuten Zeit und ordnete seine Gedanken in sein Denkschema ein. Er versuchte, die Prioritäten seines Handelns zu definieren, checkte innerlich erste Reaktionsmöglichkeiten ab und entschloss sich dann, mit Bruder Anselm einen Rundgang durch das Kloster zu machen. Augenschein nannte er es: einen Augenschein am Ort des Geschehens zu nehmen – das Wort Tatort vermied er tunlichst!
 
Auf dem anschliessenden Rundgang sprach der Abt kein Wort. In der Herz-Jesu Kapelle blieb er beim Eingang wie angewurzelt stehen. Auf seiner Stirn schwollen zwei Adern bedrohlich auf und Anselm wurde den Eindruck nicht los, dass der Abt mit Hilfe Gottes versuchte, die innerlich aufkeimende Zornesröte nicht auf seinem Antlitz erscheinen zu lassen. Dass Benedikt innerlich erregt war, spürte Anselm an der Stimmlage, in der er nun Anweisungen – oder waren es gar Befehle? – erteilte.
 
„Anselm, nehmen Sie die Lendenschürze ab, befreien Sie Jesus von der grauenhaften Velokette und verbrennen Sie den Papierfötzel am Boden. Schreiben Sie anschliessend alles auf und bringen Sie das Dokument dann in mein Büro. Sprechen Sie mit niemandem, nicht mal mit sich selbst darüber! Der Zeitpunkt, darüber zu sprechen ist noch nicht gekommen. Es ist unser Geheimnis und die Klostermauern werden es beschützen, bis wir anders entschieden haben.“
 
Was er unter wir verstanden hatte, war Anselm nicht klar. Aber er wusste, was er zu tun hatte.
 
 „Haben wir heute Donnerstag, den 12. oder Freitag, den 13. April?“, meinte der Abt noch, bevor er ihn mit warmem Händedruck zurück in seine Klause gehen liess. Ob die Frage nach dem Datum ein Scherz sein sollte oder nicht, war Anselm nicht klar.
 
 


​​Der Lausbubenstreich am Etang de la Joie
 
Der Sommer war nachhaltig ins Land gezogen und Leonie drängte es, ihrem neuen Freund Rushdy die landschaftlichen Schönheiten der Schweiz zu zeigen. Nach einem Wochenendausflug ins Berner Oberland in ein verlassenes, autofreies landschaftlich pittoreskes Tal mit einem gewaltigen Wasserfall, mit einem kleinen unter Naturschutz stehenden Seelein, das sich von Zeit zu Zeit selbst trocken legte, nach einer unvergesslichen Nacht in einer romantischen Jugendherberge am Talende, wollte Leonie irgendwohin in die Romandie. Es ging nicht nur um andere Eindrücke, es ging auch um das Multikulturelle, um die andere Sprache, die andere Mentalität und das andere Landschaftsbild. Sie entschied sich letztlich für ein Zeltwochenende in den Wäldern, die den Etang de la Joie umgaben.
 
Am Freitagmorgen fuhren sie los mit Zelt und Zündwürfel, mit Gaskocher und Kaffeepulver und etwas dürftig mit sommerlichen Kleidern versehen. Alles andere sollte sich ergeben. Man wollte das tun, das essen und das erleben, wozu man gerade Lust hatte. Rushdy hatte wieder mal Verspätung. Er behauptete zwar den Treffpunkt nicht gefunden zu haben, aber Leoni wusste, dass dies seine Masche war.
 
Sie war etwas grummelig an der Grenze zur Zickigkeit, als sie ihn mit gedämpften Sympathiebezeugungen begrüsste. Man beschloss, im nahen Dorf die Lusteinkäufe oder anders formuliert: die Einkäufe, die sie gelüsteten, zu tätigen. Mit Grilladen, jurassi
schem Bauernbrot, Butter und Konfi, mit Kambly Bisquits und drei Flaschen Wein vom freiburgischen Mont Vully machte man sich daran, in der Nähe des Teichs das Zelt aufzubauen.
 
Man genoss den Abend trotz der etwas fotzeligen Vorgeschichte. Man genoss die Tannen und die Äste, die sich schon kurz über dem Boden auszubreiten begannen. Man genoss den Duft der Pilze und den Duft der Grilladen. Und der Abend war ein voller Erfolg. Er verlief dank dem Mont Vully animiert und heiter und widersprach damit den zuvor eher nihilistischen Erwartungen der beiden frisch Verliebten.
 
Trotzdem oder gerade deshalb schliefen beide nur sehr oberflächlich und gegen 5 Uhr morgens hatten sie Lust. Lust nicht aufeinander, sondern nebeneinander. Beide zog es hinaus. Hinaus in den anbrechenden Morgen! In die Natur, zu den erwachenden Tieren. Zu den Fischen, zum Kauz, zum Fuchs, zum Reh, zu den Mäusen bis hin zum Wurm.
 
Beide hatten das Gleiche im Sinn und es verband sie urplötzlich eine tiefe seelische Verbundenheit. Sie kamen überein, vor dem Morgenessen eine kurze Wanderung um den Etang de la Joie zu unternehmen.
 
Was sie erlebten, war Natur pur. Eine verlassene Urgegend, etwas versumpft, etwas vermodert, etwas verwunschen. Unsichtbare Borkenkäfer, die an Lothar geschädigten Stämmen nagten; Frösche, die vergeblich im dunklen Gewässer ihre nicht verständlichen Morgenbotschaften unkten und Eulen, die nicht einsehbar, die ganze gespenstische Szene überwachten.
Leonie und Rushdy wählten sorgsam ihre Wege. Sümpfe sind gefährlich! Seichte Pfade beinhalten stets eine stumme Warnung.
 
Der Morgen lichtete sich, langsam zwar, aber stetig. Die Bäume zeigten langsam wieder ihre sommerlichen Blätter. Das Schilfrohr offenbarte sich von der verführerischsten Seite, als Leoni plötzlich einen kleinen Seitenweg ins Unterholz entdeckte, der offenbar vor nicht allzu langer Zeit durch ein anderes menschliches Wesen begangen wurde. Zumindest ein paar Schuhsohlen mit markantem Absatzspuren und ein paar abgebrochene Föhrenzweige deuteten darauf hin. Sie räumte zwei Äste, die ihre Sicht hemmten, auf die Seite.
 
Was sie sah, erstaunte sie, nicht mehr und nicht weniger. Sie wurde nicht schlau aus dem Bild, das sich ihr darbot. Am Ende des Weges sah sie einen schwarzen Rettungsring, der längs und quer angesägt war, bei genauem Hinsehen bis kurz vor einer möglichen Bruchstelle. In jedem Schnitt war eine weisse, zwischenzeitlich etwas zerschründete Nelke eingelegt. Vor dem Ring lag ein verwetterter Zettel mit einer durch den Regen etwas verwischten Botschaft:
 
„Hüte Dich vor dem Sumpf!“ stand darauf, „Er lässt Dich nicht mehr los. R.“
 
Rushdy fand das Ganze etwas skurril und schräg, tat es aber als kreativen Lausbubenstreich ab. Leoni aber war emotional getroffen. Das Erlebnis liess sie tatsächlich nicht mehr los. Ihre gute Laune war mit einem Mal verflogen. Solche Geschmacklosigkeiten waren weder den Menschen noch der unberührten, idyllischen Natur zumutbar. Für sie war das Wochenende gelaufen. Gegen Mittag protzten sie ihr Zelt ab und  reisten missmutig nach Hause. Leoni in ihren trüben Gedanken versunken und kaum mehr ansprechbar. Rushdy verstand nach dem abrupten und seiner Meinung nach überstürzten Abgang die Welt und vor allem den ihm fremden Habitus seiner neuen Schweizer Freundin  gar nicht mehr.
 
 
 
Sebastian zweifelt an seinem Menschenverstand
 
Der Herbst war langsam ins Land geschlichen. Die Blätter verfärbten sich gelb, orange, teilweise von purpur-, über zinnober- bis blutrot. Aber braun war Sebastian am sympathischsten; denn für viele Pflanzen bedeutete diese Farbe das qualvolle Absterben, das endgültige, nicht mehr rückgängig zu machende Ende. Es beunruhigte ihn sehr, dass sein Projekt, kein öffentliches Thema wurde. In keiner Zeitung, in keinem noch so kleinen Regionalblatt war eine Pressenotiz zu lesen. Niemand nahm ihn zur Kenntnis. Keine Sau interessierte sich für seine perfekt durchdachten, sorgfältig inszenierten Mordandrohungen.

Ohne Angst verbreiten zu können, drohte seine ganze kriminelle Energie zu verpuffen. Seine Gegner sollten schaudern, tagsüber zittern und nachts von Attacken gruseliger Dämonen träumen. Das war es, was er anstrebte! Seelische Grausamkeit! Ziel war, dass sie mindestens einen Drittel ihres lausigen Daseins in ihrem eignen Angstschweiss baden mussten. Warum nur geschah nichts? Rein gar nichts.
Warum geriet nichts in Bewegung, blieben alle seine Bemühungen wirkungslos?
 
So konnte es nicht weitergehen! Das Risiko musste erhöht werden; sorgfältig dosiert zwar, aber eben doch etwas peppiger und vor allem nachhaltiger als bisher. Die Spuren seiner „Taten“ verloren sich scheinbar im schweizerischen Pressedschungel. Kein Mensch wollte auf seine Horrorarien aufspringen, höchst wahrscheinlich nicht mal eine kleine Polizeiakte. Wenn kein Mensch eine Sensation wittert, – das war ihm klar -, wenn niemand ein drohendes Verbrechen vermutet, würde er nie ein öffentliches Thema werden. Niemand hat den geringsten Grund, über Alltagsbanalitäten zu reden, nicht mal die Rentnermafia.
 
Also musste Sebastian frecher, aggressiver und vielleicht auch etwas krimineller werden. Er stellte sich vor, wie er inmitten einer Stadt Angst und Schrecken verbreitete. Tagsüber lag’s nicht drin. Das wusste er, ohne lange darüber nachzudenken. Aber nachts? Irgendwann nach Mitternacht in einer einsamen, schummrigen Gasse, abseits vom mondänen Nachtleben? Sebastian sinnierte in seinem Ferienhaus hin und her. Er spielte ein nächstes mögliches Szenario geistig immer wieder durch; suchte sich mögliche Standorte, mögliche Anmarsch- und mögliche Fluchtwege. Checkte Varianten vom Norden her durch, vom Süden, vom Westen und vom Osten. Schlussendlich lehnte er alles ab. Die Chance entdeckt zu werden, war zwar klein, aber in einer Stadt hatte es in dunklen Stunden immer wieder schummrige Gestalten, quergefederte Nachtfalter und nachtaktive Berufstätige; rechtschaffene Vertikale beim Erwerb und zwielichtige Horizontale vom Gewerbe. Solche Risiken ging Sebastian nicht ein. Nicht bei seinem IQ! Die nächste Plattform, die ihm einfiel, war eine Go Kart-Strecke. Ein blutverschmierter Turbo-Rennwagen quer in der Strecke wäre zwar noch recht pressegeil, und die Fotos ein dark-mind-picker, besonders wenn in der unmittelbaren Umgebung todesnahe Symbole verstreut liegen würden. Aber auch hier sprach der Risikofaktor dagegen. Die Kartstrecken, die er kannte, waren von mehreren Stellen aus total einseh- und damit auch überblickbar. Vernünftige, planerisch bis ins Detail durchdachte Vorbereitungsarbeiten waren hier beinahe unmöglich und ein Überraschungseffekt für den Fahrer ein Ding der Unmöglichkeit. Er würde die bereit gestellte Bescherung bereits beim Einsteigen in sein Gefährt durchschaut haben. Über die Angestellten respektive die Rennleitung brauchte er sich gar keine weiteren Gedanken zu machen.
 
Er dachte noch über andere Tatorte nach: ein Szenario vor der Redaktion der Boulevard-Presse. Damit hätte er seine heiss herbeigesehnte Schlagzeile zu 100 Pro. Oder eine Unheil ankündigende Untat in der Tiefgarage des Football-Champions-League-Teilnehmers, inszeniert während eines high risk-Matchs. Aber im Grunde kam Sebastian nicht wirklich weiter. Die zündende Idee liess auf sich warten. Sebastians dunkle und seine luzide Seele fanden keinen abgründig obskuren und vor allem keinen stimmigen Kompromiss, der ihn befriedigen  und überzeugen konnte. Aber immer wenn Du meinst, es kommt nichts mehr, flattert von irgendwo ein geiles Lichtlein her!
 
 

Der tödlicher Verkehrsunfall, der keiner war

 
Es war kurz nach Mitternacht; Tschumi etwas sehr gut gelaunt am Steuer seines Honda Hybrids, als er plötzlich im Dunkel auf seiner Fahrbahn einen Menschen am Boden liegend zu sehen glaubte. Er stoppte brüsk ab. Er konnte sich dies erlauben, da auf der abgelegenen einsamen Landstrasse weit und breit kein Licht, kein Autoscheinwerfer oder gar ein Hindernis wahrzunehmen war. Er fuhr auf den nächsten Seitenweg, stellte den Motor ab, öffnete die Autotür und stieg vorsichtig aus. Langsam, zunächst etwas zögernd lief er zurück.
 
Es mussten etwa 100–150 m gewesen sein, als ihn ein Puppenkopf anglotzte. Nur ein Kopf, abgefranst vom Hals. Ein Kopf mit zwei abgekröpften Augen. Keine 3 m daneben eine ausgewachsene, violette Stoffpuppe Tschumi erschrak heftig. Sein Herz popperte wild. Er schwitzte urplötzlich und begann leicht zu zittern. Ihm wurde kalt und als er seinem Mund öffnete, sah er seinen eigenen Hauch. Wie hilfesuchend blickte er auf die Landstrasse zurück und wurde plötzlich etwas Gelbem gewahr. Etwas Kleines, in die Länge Gezogenes. Ein sehr grelles Gelb, aber nicht leuchtend; kein Licht, keine Taschenlampe, einfach ein grell gelber Gegenstand. Etwas flau im Magen und leicht verwirrt im Geist, näherte er sich mit mulmigem Gefühl dem gelben Ding. Er konnte es nicht glauben. Er hob es auf. Es war ein Spielzeugauto von der teueren Sorte, ein gelber Ferrari circa 20-25 cm lang, und - er glaubte es kaum - vorne blutverschmiert.
 
Tschumi war angewidert und atmete tief durch. Er fühlte sich einen Moment lang wie in einem schlechten Traum, in einem Horrorfilm, als er keine 50 m davon entfernt ein grosses schwarzes Kreuz am Wegrand stehen sah. Er erschauderte und begann zu schlottern. In den letzten zehn Minuten hatte er keinen Menschen, kein Gefährt weder zwei- noch vierrädrig gesehen. Er war mutterseelenallein. So einsam wie er sich noch nie gefühlt hatte. Solo auf der Welt, nur auf sich selbst gestellt und das zudem kurz nach Mitternacht in einer gottverlassenen Geisterwelt, die ihn diabolisch berührte; an einem Ort, an dem er noch niemals war.
 
Den finalen Schock erlitt er, als er ein paar Minuten später auf der Fahrbahn die folgende scheinbar zum Kreuz gehörende INRI-Botschaft fand:
 
“Hüte Dich vor dem Fussgängerstreifen! K.“
 
Tschumi war urplötzlich stocknüchtern. Seine Hirnzellen waren voll auf Draht. Er nahm sein Handy aus der Jacke. Jetzt musste er handeln, das wusste er. Das war so sicher wie das Amen nach dem Gebet! Ihm war klar, dass es sich um einen äusserst ungewöhnlichen Vorfall handelte, den er nicht ungeschehen machen konnte. Er bereitete sich geistig auf das bevorstehende Gespräch mit der Polizeizentrale vor und wählte dann die vorprogrammierte Handynummer, die 117.
 
Die Streife traf circa 20 Minuten später ein und stiess nach dem ersten Augenschein am Strassenrand auf einen Tschumi, der apathisch und traumatisiert in seinem Honda sass. Steinegger, der Polizeigefreite runzelte die Stirn und Duval, der Neue schüttelte den Kopf. Man schaute sich gegenseitig in die Augen und keiner der beiden, nein sogar der drei begriff, was er soeben gesehen hatte. Ausser dem Streifenwagen und dem Honda war weit und breit kein Auto zu sehen; kein Anzeichen auf einen Parkhalt eines fremden Autos, keine Bremsspur. Einfach nichts! Steinegger fand als erster wieder zu seiner Sprache zurück. Mit einem kurzen gestrengen Augenkontakt gab er Duval zu verstehen, dass dieser „die Unfallstelle“ zu sichern habe. Danach ging er zum Streifenwagen zurück, nahm Kontakt mit der Zentrale auf und rapportierte, was er und Duval angetroffen hatten.
 
Die Anordnung des Einsatzleiters, dass sie Tschumi vor Ort ein erstes Mal einzuvernehmen hatten, nervte ihn gewaltig; wie wenn er nicht selbst darauf gekommen wäre! Das „verstanden, fertig“ kam so frühzeitig, dass die Frostigkeit von Steineggers Gefühlslage beinahe über den Äther zu spüren war. Etwas misslaunig erkundigte er sich dann nach dem Befinden von Tschumi und bat ihn hernach auf einen kurzen Rundgang durch den Ort des Geschehens. Um welche Zeit traf er ungefähr hier ein? Was sah er zuerst? Was dachte sich dabei? Wie verhielt er sich? Was rührte er an? Hob er etwas auf? Hustete er oder niesste gar? Hörte er Geräusche? Hatte er das Gefühl allein zu sein?
 
Steinegger löcherte ihn mit Fragen. Duval, der jüngere der Beiden, protokollierte das Ganze etwas einohrig; denn der schriftliche Ausdruck war nie seine Stärke gewesen. Duval war eher der Hüter des Gesetzes oder der Bussenverteiler, ein obrigkeitsgläubiger Einzelgänger. Steinegger hingegen war der Korporal mit einer sprichwörtlich kriminaltechnischen Ader, die leider nie jemand richtig zur Kenntnis genommen hatte. Steinegger spielte wie immer seine Stärken gnadenlos aus. Grosse, stattliche, leicht übergewichtige Figur; gefurchte, kantige Gesichtszüge mit gesundem Teint. In seinen polizeilichen Qualifikationen stand stets „natürliche Autorität“, was eine bodenlose Untertreibung für seine meistens bärigen, knurrigen Auftritte war.
 
Circa eine halbe Stunde war vergangen, seitdem die Polizeistreife vor Ort war, als das erste Auto heran und gleichzeitig auch vorbei brauste. Steinegger schüttelte den Kopf und Duval ärgerte sich, dass er die Autonummer nicht identifizieren konnte. Kurz darauf stoppte ein schwarzer VW Golf auf der Höhe der violetten Stoffpuppe brüsk ab und hielt notdürftig eingeparkt, halb auf der Fahrbahn, halb auf der Wiese an. Er jung und forsch im Fahren, sie knackig und selbstsicher im Auftritt. Gut gestyltes Chassis, langes Laufwerk, zwei attraktive Airbags und den scharfen Tiger im Tank. Steinegger entging das nicht. Sein auch in dieser Beziehung geschultes Auge sah sie auf ihn zukommen.
 
„Können wir irgendwie behilflich sein?“ flötete sie ihn an. Steinegger nahm den Polizeiton raus und schaltete auf männlich! „Merci für Ihr nettes Angebot, aber wir haben’s einigermassen im Griff. Opfer gab es keine, aber das Ganze macht uns trotzdem etwas Kopfzerbrechen. Urkomische Situation!“
 
Sein nachdenklicher, etwas ratloser Blick blieb eine Spur zu lange auf ihren pechschwarzen Augen haften. Sie nahm es zum Anlass, sich wieder zum Auto zurückzuziehen. Ein paar Augenblicke später tauchte auch ihr Freund auf. Er hatte zwischenzeitlich das Feld ausgiebig erkundet und, was weder Steinegger noch Duval bemerkt hatten, auch ausgiebig mit seinem Handy fotografiert.
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Der mediale Quantensprung
 
Als Abt Benedikt nach der Morgenmesse, nach dem Studium der klerikalen Pflichtmedien zur Kür überging und die nationale Boulevardpresse zu lesen begann, stach ihm auf dem Titelblatt sofort ein grossformatiges Foto ins Auge. Er sah eine violette Puppe ohne Kopf auf einer verlassenen Landstrasse liegen, dahinter ein am Wegesrand eingeschlagenes schwarzes Kreuz. Headline in vollfetter 36’-Schrift:
 
„Welcher Irre spielt das Lied vom Tod?“
 
Benedikt war tief betroffen und nervte sich gewaltig über die Abartigkeit des Gedankens und den seiner Meinung nach blasphemischen Bildinhalt:
 
„Auf der schwach befahrenen Landstrasse zwischen Meilingen und Eschenbach begegnete ein heimkehrender Autofahrer im Dagersberger Wald einer gespenstisch mysteriösen Horrorszene. Auf seiner Fahrbahn lag eine violette Puppe ohne Kopf  und ein paar Meter davon entfernt ein gelbes, grösseres Spielzeugauto mit blutverspritzter Kühlerhaube. Auf Sichtweite stand ein schwarzes Kreuz, das höchstwahrscheinlich kurz zuvor am Wegrand eingeschlagen wurde. Auf einem Streifen Papier war die rätselhafte Botschaft zu lesen: Hüte Dich vor dem Fussgängerstreifen! K. Was derzeit gemäss den amtlichen Stellen irritiert, ist die Tatsache, dass es 1. weit und breit keinen Fussgängerstreifen gibt und 2. dass derzeit noch keine Anzeichen für ein mögliches Opfer gefunden wurden.“
 
War es die Tat eines Irren, oder war es gar eine kalte, öffentliche Morddrohung an einen anonymen Adressaten? Abt Benedikt war urplötzlich hellwach. Er erinnerte sich an den dunklen April-Morgen; an den grauseligen Vorfall in der Herz-Jesu-Kapelle. Er legte sich auf seine Luxus-Pritsche und liess seine Erinnerungen Revue passieren. Es gab Parallelen, zweifelsohne. Es musste der gleiche Täter sein. Er war sich sicher! Todsicher! Die Muster waren ähnlich: Zwei Gegenstände, zwei Symbole, zwei Farben, eine Botschaft und ein 1-Buchstaben-Absender. Benedikt war aufgewühlt. Runter fahren dachte er! Eine Nacht darüber schlafen; Distanz gewinnen und erst dann entscheiden.
 
Der Tag verlief langweilig normal, ausser dass der Abt für alle Aussenstehenden etwas abwesend wirkte. Ungewöhnlich war dies zwar nicht, denn immer, wenn er sich in einer solch unnahbaren Gemütsverfassung befand, vermuteten seine Patres und Brüder eine geistige Session mit dem Grand Seigneur là-haut. Benedikt aber suchte sich in seinem geistigen Labyrinth zurechtzufinden. Nach dem Nachtessen ging er frühzeitig in seine Sakralsuite. Schlaf fand er lange Zeit keinen. Erst spät am Abend, kurz vor Mitternacht fand er endlich die innere Ruhe und schlief den Schlaf des Gerechten.
 
Oder doch nicht ganz? Morgens um drei Uhr hatte er plötzlich das Bedürfnis, sich zu duschen. Ermattet, ohne Lebensgeister war er aufgewacht. Er erinnerte sich, etwas verwirrt und schweissgebadet wie er war, vage an seinen eben durchlittenen Traum, vor allem aber an die Schlagzeile im deutschen Bild:
 
„Geistiger Würdenträger protegiert Schwerverbrecher!“
 
Dazu sein Konterfei: strenger, etwas satanisch anmutender Blick mit struppigen Haaren inmitten seiner Fraternitas beim morgendlichen Gebet. Zweifelsohne eine Fotomontage! Aber er ärgerte sich grün und blau. Albtraum nannte man das, und ihm wurde klar, dass er an seine Grenzen gelangt war. Er öffnete das Fenster und atmete die wohltuend kalte Herbstluft ein, die ihm seine Lebensgeister und seine Urteilsfähigkeit langsam, aber kontinuierlich wieder einhauchte.
 
Eine halbe Stunde später hatte er sich gänzlich erholt und beschloss, Bruder Anselm in seine Gedanken und neuesten Erkenntnisse einzuweihen. Anselm hatte dies verdient.
 
Seit Monaten schwieg er beharrlich und hielt sich an das ihm vom Abt auferlegte Redeverbot. Keine Menschenseele hatte bis dahin etwas von ihrem Geheimnis erfahren; zumindest war Benedikt noch nichts zu Ohren gekommen. Und das war aussergewöhnlich; denn auch oder gerade hinter den Klostermauern wird sehr gerne intrigiert. Benedikt bestellte Bruder Anselm auf neun Uhr in sein Büro.
 
 


Bruder Anselms grösste Stunde
 
Eine Minute vor neun Uhr klopfte Bruder Anselm an die Bürotür von Abt Benedikt. Er wusste noch sehr genau, was ihm Benedikt vor acht Jahren sagte, als er bei einem Termin viel zu früh bei ihm auftauchte:
 
„Zwei Minuten zu früh, zu früh; eine Minute zu früh, rechtzeitig; genau auf die Minute, zu spät.“
 
Der Abt öffnete höchstpersönlich die Tür und bat ihn herein. Anselm war etwas verunsichert und meinte eine gewisse unangebrachte Förmlichkeit im Gebaren des Abts zu erkennen. Die folgenden Minuten belehrten ihn eines Besseren. Sein Chef fragte ihn in sanftem, sehr zuvorkommendem Ton, ob er die Zeitungen schon gelesen habe. Anselm, den die Aussenwelt nur bedingt interessierte, verneinte mit der fadenscheinigen Begründung, dass er bis jetzt noch keine Zeit dafür gefunden habe. Benedikt lächelte etwas gequält und schob ihm das Boulevard-Blatt mit der fetten Headline zu. Anselm begann zu lesen. Er las langsam wie immer, er dachte langsam wie immer, aber nach einer schier unerträglich langen Stille, gab Anselm etwas bleicher zwar als zuvor seine ersten, wohl überlegten Gedankengänge preis.
 
„Ich denke wahrscheinlich das Gleiche wie Sie, Hochwürden“ meinte er, „es gibt da einen Zusammenhang!“.
 
„Ja“, meinte Benedikt „und das zwingt uns zum Handeln. Die Zeit des Schweigens ist vorbei! Ich habe mir lange überlegt, wie wir vorgehen könnten. Nun interessiert mich Ihre Meinung, Bruder Anselm! Was würden Sie jetzt tun?“
 
Anselm stutzte. Offenbar hatte er seit der letzten Begegnung einen Quantensprung im Ansehen des Abts gemacht. Benedikt redete zum ersten Mal, wenn es um Entscheidungen ging nicht in der Ich-Form, sondern in der Wir-Form. Anselm war im Meinungsfindungsprozess eingebunden. Seine Überlegungen interessierten offenbar den Klosterchef und das schmeichelte ihm sehr. Wiederum nahm sich Anselm 1- 2 Minuten Zeit, obschon er schon längstens wusste, was er tun würde. In den letzten Wochen hatte er nächtelang darüber nachgedacht, was er als Abt nach dem Zwischenfall in der Herz-Jesu Kapelle unternommen hätte. Das angeordnete Schweigen war ihm oft schwergefallen, aber das Versprechen gegenüber Benedikt war für ihn wie ein Gelübde. Über seine Zunge war bis zum heutigen Tag tatsächlich kein Sterbenswort gekommen.
 
„Auch wenn Sie vielleicht nicht meiner Meinung sind“, begann er, „ ich würde die Polizei informieren, auch heute noch nach so langer Zeit; quasi aus aktuellem Anlass. Die Vermutung, dass das Eine mit dem Anderen zu tun haben könnte, ist zumindest nicht von der Hand zu weisen.“
 
Die Gesichtszüge des Abts entspannten sich und er lächelte verschmitzt. Er wirkte auf einmal völlig antiautoritär und sass fast kumpelhaft auf sein Pult. Er streckte seinen rechten Daumen in die Höhe und meinte beinahe euphorisch:
 
„Sensationell, Anselm; wir denken beide gleich! Ich könnte mit der örtlichen Polizei telefonisch Kontakt aufnehmen und den Wachtmeister in einer dringlichen Sache noch heute Morgen hierher bitten. Wir würden ihn dann gemeinsam auf den Presseartikel ansprechen, ihn in unser Geheimnis einweihen und gemeinsam das weitere Vorgehen besprechen. Wichtig scheint mir, dass wir bis zum Zeitpunkt des Treffens ein sauberes Informationskonzept erarbeiten. Auch alle anderen primär interessierten Kreise sollen möglichst bald, am besten noch heute Abend gleichzeitig informiert werden und zwar hier in unserem Haus. Wir wollen keine negativen Gerüchte und keine unangebrachten Spekulationen. Unser Kloster hat das nicht verdient.“
 
„Der Wachtmeister ist etwas leutselig“, warf Anselm noch ein, „ein stabiler Maulkorb oder gar die Androhung eines Gottesbanns könnte ich mir als präventive Massnahme schon noch vorstellen“, meinte Anselm halb belustigt und im Grunde genommen doch ziemlich ernst. So geschah es auch!

Es waren alle gekommen. Punkt 17.00 Uhr eröffnete der Abt die Konferenz, rechts Bruder Anselm, links neben ihm Willisegger, der Polizeiwachtmeister; auf der leichtem Empore sonst niemand. Die Stühle 1 und 5 blieben unbesetzt. Im Saal knisterte es beinahe hörbar. In der ersten Reihe die Vertreter der regionalen und ein paar Vertreter der gesamtschweizerischen Presse; dahinter die Politik: Gemeindeoberhäupter, Staatsrätinnen und Staatsräte und selbst der heimische Oberamtmann war präsent; genau gesagt, hatte sich selbst eingeladen. Am Schluss in den letzten Reihen die Fratres und des Klosters und deren externe Angestellte. Die Headline der kurzfristig erfolgten elektronischen Einladung
 
“Hüte Dich beim Wandern vor hölzernen Kreuzen!  U.“
 
hatte viele neugierig gemacht. Aber was noch viel ungewöhnlicher war, war der Verteiler der Einladung. Für viele lag eine Sensation in der Luft.
 
Abt Benedikt eröffnete die Session und dankte für das Interesse. Er kam gleich zur Kernbotschaft oder journalistisch ausgedrückt zum Knochen. Er verwies auf den morgendlichen Artikel in der Boulevard-Presse.
 
„Bruder Anselm und ich fanden, dass die Zeit gekommen ist, Sie über einen Vorfall im Kloster zu informieren, der sich vergangenen April hier im Kloster ereignet hat. Bruder Anselm, der alles vor Ort erlebt hat, wird Sie nun im Detail informieren.“
 
Anselm war urplötzlich im Mittelpunkt des Interesses von gegen 120 Leuten und etwa 10 Kameras. Noch bevor er den Mund geöffnet hatte, war er schon im Blitzgewitter der Pressefotografen und der Paparazzi. Anselm nahm sich Zeit, wie immer! Machte nichts, sagte nichts, bis das Fotoklicken nicht mehr zu hören war. Dann erhob er seine sonore, vertrauenserweckende Stimme und berichtete im Detail, was er am fraglichen Tag erlebt hatte, begründete wieso er und Benedikt zu einem Stillhalteabkommen gekommen waren und wieso sie jetzt der Meinung waren, die nun hier Anwesenden als Erste zu informieren.
 
Der Mann in der Kutte machte seine Sache gut. Verdammt gut! War ruhig, überlegt, nie hektisch, verhaspelte sich nicht, nahm sich bei Fangfragen genügend Zeit, kurz: es war ein souveräner Auftritt! Nach zwanzig Minuten fragte Abt Benedikt, ob er noch Fragen beantworten dürfe mit dem gleichzeitigen Hinweis, dass er, Bruder Anselm und selbstverständlich auch Willisegger, der örtliche Polizeiwachtmeister anschliessend beim Vesper-Apéro auch gerne persönlich für Fragen zur Verfügung stünden. Dieser Satz, der Exklusivaussagen in den Raum stellte, verfehlte seine Wirkung nicht. Die Presseheinis standen Schlange, vor allem bei Wachtmeister Willisegger, aber auch bei Abt Benedikt und bei Bruder Anselm. Wenn man überhaupt etwas am Event bemängeln konnte, war es höchstens das Apérogebäck, das in etwa die spätherbstliche Bisstemperatur der das Gotteshaus umgebenden Klostermauer erreichte.
 


​Der rechtliche Tatbestand

Sebastian hatte am Vorabend in der Dorfbeiz der Diskussion am Nebentisch aufmerksam zugehört. Die heimische Pensioniertenrunde diskutierte über die rechtlichen Folgen der von ihm inszenierten „Abschuss- resp. Abschlussbilder des menschlichen Daseins“.
 
Er musste sich die abenteuerlichsten rechtlichen Interpretationen anhören. Demnach drohte dem Täter wenn nicht gar die Todesstrafe doch lebenslängliches Zuchthaus, langjährige Gefängnisstrafe bis hin zur Straffreiheit mit Zwangseinweisung in eine psychiatrische Klinik. Sebastian hatte sich bis dato um die rechtlichen Konsequenzen seines Handelns noch keine Gedanken gemacht, aber er spürte, dass die Zeit gekommen war, sich auch mal in diese Richtung ein paar Gedanken zu machen.
 
Zum Strafgesetzbuch (StGB) hatte er seit jeher ein etwas angespanntes Verhältnis. Dass man ein ganzes zirka 4 cm breites Buch über Tatbestände, die in der Schweiz verboten sind, herausgeben musste, war seiner Meinung nach ein Hohn für einen Staat, der sich das Wort Freiheit gross auf seine Fahne schrieb. Aber wie immer, wenn man etwas öffentlich brandmarken muss, haben die Anderen noch nicht bemerkt, dass dem so ist. So nahm Sebastian das verstaubte StGB vom Bücherregal und begann zu blättern. Er wurde relativ schnell fündig.
 
Unter „Strafbare Vorbereitungshandlungen“ las er unter Art. 258 bis: „ Abs. 1: Mit Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren oder Geldstrafe wird bestraft, wer planmässig konkrete technische oder organisatorische Vorkehrungen trifft, deren Art und Umfang zeigen, dass er sich anschickt, eine der folgenden strafbaren Handlungen auszuführen: a. vorsätzliche Tötung (Art. 111), b. Mord (Art. 112), c. schwere Körperverletzung (Art. 122), u.a.m. Abs. 2 Führt der Täter aus eigenem Antrieb die Vorbereitungshandlung nicht zu Ende, so bleibt er straflos.
 
Allenfalls könnte noch Art. 258 „Schreckung der Bevölkerung“ eine Rolle spielen, aber wenn schon, dann nach Sebastians Meinung eher eine untergeordnete. „Wer die Bevölkerung durch Androhen oder Vorspiegeln einer Gefahr für Leib, Leben oder Eigentum in Schrecken versetzt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.“
 
Für Sebastian, der der Kunst und der Kultur stets sehr nahe gestanden war, waren seine Inszenierungen stets künstlerischer Ausdruck der abrupten, finalen Seite von Leben und Tod. Seine Mordszenarien waren Kult und hatten rein gar nichts mit einer konkreten Realität zu tun. Die Bevölkerung sollte nicht in Schrecken versetzt, sondern zum Nachdenken angeregt werden. So oder zumindest ähnlich würde ein gewiefter Verteidiger zu argumentieren versuchen.
 
Der Art. 260 bis war da schon etwas anspruchsvoller. „Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe wird bestraft, wer planmässig konkrete technische oder organisatorische Vorkehrungen trifft, deren Art und Umfang zeigen, dass er sich anschickt, eine der folgenden strafbaren Handlungen auszuführen:
a. Vorsätzliche Tötung (Art. 111);
b. Mord (Art. 112);
c. Schwere Körperverletzung (Art. 122);
cbis.200 Verstümmelung weiblicher Genitalien (Art. 124);
d. Raub (Art. 140);
e. Freiheitsberaubung und Entführung (Art. 183);
f. Geiselnahme (Art. 185);
g. Brandstiftung (Art. 221);
h. Völkermord (Art. 264);
i. Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 264a);
j. Kriegsverbrechen (Art. 264c–264h).201
Führt der Täter aus eigenem Antrieb die Vorbereitungshandlung nicht zu Ende, so bleibt er straflos.“
 
Eine gewisse Planmässigkeit war schon hinter seinem Tun. Dass es aber konkrete Vorbereitungshandlungen waren, müsste man ihm schon noch beweisen müssen. Bis jetzt zeigte er stets Bilder, die abgeschlossen in der Handlung waren und mit einer Vorbereitung rein gar nichts zu tun hatten, zumindest nicht prima vista. Und wenn schon dachte er:  „Führt der Täter aus eigenem Antrieb die Vorbereitungshandlung nicht zu Ende, so bleibt er straflos.“
 
Und auch hier gilt: Die Welt ist das, was ich von ihr denke! Dass ich das Gleiche überlege wie ein 08.15-Leser oder ein nur in Paragraphen denkender Staatsanwalt, ist ziemlich unwahrscheinlich. Relevant ist das, was ich – mit Betonung auf ich - denke. Strafrechtlich relevant ist nur meine Absicht, mein Wille und allenfalls mein Vorsatz. Nicht anderes! Was Andere denken ist egal. Sebastian war beruhigt und beschloss, den eingeschlagenen Weg weiter zu begehen.
 
 

Der erste polizeiliche Gedankenaustausch
 
Pelletier, den sie in Polizeikreisen nur den Tapir nannten, gab Leonie und Rushdy einen Termin am frühen Abend in seinem Büro. Dass sie der Tapir-Ikone leibhaftig gegenüber sassen, merkten die Beiden sofort. Lange nach vorne hängende Nase, spitze, etwas abstehende Ohren; kleiner Kopf im Verhältnis zu seinem plumpen, eher schwerfälligen Körper. Relativ kurze Beine, welche seinem Spitznamen echte Ehre machten. Der Tapir löcherte sie mit Fragen; bequemen und unbequemen, wohlwollenden und provokativen; persönlichen und unpersönlichen und, was Leonie am meisten störte, auch mit intimen Fragen, die ihrer Meinung nach nichts mit dem Vorfall am Etang de la Joie zu tun hatten. Aber sie liess sich nicht beirren. Sie blieb innerlich ruhig und sachlich.
 
Pelletier, der vom Fall Mont Chasse bereits gehört hatte, das Dossier aber noch nicht im Détail studiert hatte, war sofort klar, dass es hier Zusammenhänge gab. Und da er auch schon in Insiderkreisen von ähnlichen Mustern im Kloster St. Mühleberg und vom Dagersberger Wald gehört hatte, wusste er gleich, dass das Ganze interkantonal angegangen werden musste.
 
Am nächsten Morgen war sich Pelletier im Klaren, wie er weiter vorgehen würde. Zunächst würde er mal mit seinem eigenen Kommandanten telefonieren und mündlich Bericht erstatten. Da er schon einige Male den Dienstweg umgangen hatte, konnte er sich keinen Fauxpas mehr leisten. Er informierte den Chef der kriminal-technischen Abteilung und überliess ihm das hierarchiekonforme, interne Informationsvorgehen. Er überarbeitete anschliessend die Besprechungsnotiz vom Vorabend und mailte diese nach Delémont. Damit hatte er  vorerst seine Pflicht erfüllt. Nun kam er zur Kür; zu dem, was ihn interessierte; zu dem, was den Reiz seines Berufs ausmachte. Im Gespräch mit Delémont hatte er sich ausbedungen, dass er direkt mit seinem Pendant, dem Fall bearbeitenden Kriminalisten
im Kanton Schwyz Kontakt aufnehmen durfte, und zu seinem grossen Erstaunen gab man seinem Begehren statt.
 
Nach einem kurzen Business-Lunch im Cercle du Sapin ging er zurück in sein Büro und hängte sich gemütlich in seinen ledernen Bürostuhl. Eine Telefonnotiz vom Gefreiten Lambiel bestätigte ihm, dass Willisegger, sein Pendant im Fall St. Mühleberg nachmittags telefonisch erreichbar war. Er ging geistig die vier Vorkommnisse, deren Dossier er in der Zwischenzeit studiert hatte -die zwei im Kanton Jura: Etang de la Joie und Mont Chasse , den Fall Dagersberg im Kanton Luzern und eben den ersten im Kloster St. Mühleberg im Kanton Schwyz - nochmals durch.
 
Nach dem zweiten Anrufversuch hatte er Willisegger life an der Strippe. Verständigungsprobleme gab es keine; beide waren sie Urgesteine der „Landjäger“-Generation des 20. Jahrhunderts; zudem sprach Pelletier als Jurassier ein fast akzentfreies Deutsch. Er informierte seinen Schwyzer Berufskollegen ausführlich und kein Detail auslassend über die polizeilichen Ermittlungen in den Fällen Mont Chasse und vor allem neu über das Ereignis am Etang de la Joie. Sie unterhielten sich über die gemeinsamen Muster der Vorfälle, über Typisches und Atypisches. Sie sprachen über die geografische Verteilung und über die Motive und vor allem über die mögliche Psyche des „Täters“. Sie waren sich einig, dass es richtig und notwendig war, dass ein Staatsanwalt als untersuchende Behörde eingeschaltet wurde und ein interkantonales Rundschreiben an sämtliche kantonalen Polizeidepartemente ging verbunden mit der Anfrage, ob ähnliche halbdeliktische Muster auch anderswo festgestellt worden sind. Pelletier und Willisegger verblieben mit dem Versprechen, sich bei Zeit und Gelegenheit mal persönlich kennenzulernen und den Fall kriminaltechnisch näher zu durchleuchten.
 


Die geheimen Depressionen
 
Dass Hartmann jeweils gegen Ende Jahr an Depressionen litt, wussten neben seinen engsten Familienangehörigen nur wenige. Sebastian hatte darüber nur gerüchteweise erfahren, aber er glaubte sofort daran. Die typischen Symptome einer männlichen Depression vereinte Hartmann praktisch alle in seiner Person. Gross gewachsen, beinahe 2 m ab Boden. Schlaksiger, fast skelettartiger, von einer fahlen Haut überzogenen Körperbau, langes dünnes, misstrauisch strenges Gesicht mit stechenden Augen; herrisch im Gehabe, schnell reizbar, öfters verstimmt und schnell aufbrausend; vor allem, wenn man nicht seiner Meinung war.
 
Legendär sind seine Wutanfälle in der Gemeinde, vor allem an Budgetsitzungen, wo es nur so hagelte von Vorwürfen an die Adresse der minderbemittelten Ressortverantwortlichen.
 
Zudem war Kalo bekannt als Waffennarr. Man wusste in seinem näheren Umfeld, dass er im Büropult an seinem geschäftlichen Arbeitsplatz mehrere Kartuschen GP-11-Munition stapelte. Kein Mensch wusste warum und wieso. Besonders nachdenklich stimmte die Tatsache, dass er zu Hause ein Sturmgewehr besass, das er – obschon er es niemals brauchte – intensiver hegte und pflegte als ein passionierter Jäger.
 
Sebastian wusste seit Jahren davon und dieses Wissen inspirierte ihn auch zu seinem teuflischen Plan. Hartmann hatte genau die Persönlichkeitsstruktur, die ob kurz oder lang auf seine Szenarien ansprechen würde. Zudem war Hartmann sehr intelligent und als Jungmanager auch ein hochlogischer Denker, der sich gewohnt war, Prognosen zu stellen und in die Zukunft zu schauen.
 
In seiner Firma war er nicht beliebt, hatte viele Gegner und einige happige Feinde. Nur wenige konnten mit seiner aufbrausenden Art einigermassen umgehen. Er war zwar zeitweise sehr labil, im Grunde seiner Seele jedoch auch äusserst sensibel. Die gefühlte Nichtakzeptanz seines geschäftlichen Umfelds versuchte er mit seinem Mandat als Gemeinderatpräsident in Maisingen zu kompensieren. Doch je länger je mehr spürte er, dass dies ein untauglicher Versuch war.
 
Das düstere, nasskalte Februar-Wetter strudelte ihn wieder mal ab in ein nachhaltiges Depressionsloch. Er machte sich Gedanken über die seltsamen Vorkommnisse in der West- und in der Innerschweiz. Er diskutierte öfters mit seiner Gemahlin über mögliche Lay-outs dieses seiner Meinung nach narzisstischen Pseudotäters, konnte sich aber über den Sinn des Ganzen bis dato noch keinen Reim machen. Er dachte in ähnlichen Mustern wie die Presse. Was ihm jedoch aufgefallen war, war die Tatsache, dass der Absender des gestellten Szenarios stets ein anderer war. Die bisher verwendeten Buchstaben waren K, R, I und A. Wenn man die Chronologie der Ereignisse analysierte, konnte man auf die Vermutung kommen, dass das Ganze in zwei Regionen ablief. Auf die Achsen bezogen würde das bedeuten: K und I auf der Achse West und R und A in der Innerschweiz. Hartmann war überzeugt, dass das Ganze eine Vorankündigung zu etwas ganz Grossem war.
 


Wiedersehen an der Parteiversammlung
 
Als Kasser das Versammlungslokal betrat, hatte Sebastian gleich ein schlechtes Gefühl. Sein Magen streikte sofort und signalisierte dem Hirn einen akuten Drang, zu kotzen. Sebastian mochte Kasser weniger denn je. Nach 3, 4 Minuten meldeten sich die körpereigenen Diaboli. Die Teufelchen begannen mit einer Charakteranalyse von Kasser, die es in sich hatte. Mittelgrosse Erscheinung, Durchschnitt im Quadrat. Farblose, transparente Erscheinung. Stechende, kleptomanische Augen. Volllippiges, lüsternes Genussgesicht und ein übel riechender Schlund, der alles frisst, was ihm nicht gehört. Ein Ideen-Ede, ein Innovations-Knacker. Sebastian sah ihn geistig in einem blau gestreiften Einteiler mit der Nr. 00 (Chef Pissoir-Reinigung im Zuchthaus Schleimingen).

Aber leider stand er in der Realität in einem gepflegten Einreiher am Vorstandstisch und wurde vom Vorsitzenden herzlich willkommen geheissen, ganz im Gegensatz zu Sebastian, der zwar wahrgenommen, aber auch gleich coram publico ad acta gelegt wurde. Sebastian war nach der Pressekampagne betreffend Finanzierung der Inserate nicht mehr in.
 
Verdienste hin oder her; Ideenvater und Geburtshelfer interessierten niemanden mehr. Das Sagen hatten Kasser und Hartmann. Der rhetorische Fokus und das elektronische Teleobjektiv waren bei ihnen. Hartmann kam wieder einmal eine halbe Stunde zu spät mit der abgeschmackten Ausrede, dass der konzerneigene Kongress etwas länger gedauert habe, als vorgesehen.
 
Sebastian war unterdessen so adrenalinüberschüttet, dass er der Diskussion zur Abzocker-Initiative gar nicht mehr folgen konnte. Seine Gedanken bewegten sich in seiner eigenen defaitistischen Welt des Totschlags und des Mords. Dem realen Geschehen wandte er sich erst wieder bei der Parolenfassung zu. Die beiden Wendehälse das Präsi Maisingen und der Ideen-Ede lehnten die Initiative aus opportunistischen Gründen ab. Dass die Beiden gegen das Volksbegehren von Minder stimmten, verübelte ihnen Sebastian nicht. Aber dass die Zwei offensichtlich keine Zehntelssekunde auf die Idee kamen, dass sie seit Jahren selbst abzockten, indem sie die Idee eines anderen Duos klauten und diese fremddefinierte  Vision als eigene verkauften, nervte ihn einmal mehr ganz gewaltig.
 
Kasser und Hartmann zockten einfach ständig ab, zwar keine Moneten, aber stets kreative Vordenkerarbeit, zu der sie schlicht nicht fähig waren. Dass Sebastian’s Geistesblitz einer Ideen-Abzocker-Initiative nicht umsetzbar war, leuchtete ihm relativ rasch ein. Für kurze Zeit beschäftigte sich Sebastian noch mit einer Ideenklau-Abschuss-Pistole mit scharfer Munition. Er visualisierte ein Serienfeuer auf Kasser und das Hartmann. Seine Seelenteufelchen hatten Hochsaison und begannen eine Harry-Potter ähnliche Irrwelt zu kreieren, als sich plötzlich Ideen-Ede zu Wort meldete.
 
Er verdankte in seiner schleimigen Art die kompetente Versammlungsführung, den weisen Entscheid der Versammlungsteilnehmer und versprach, dass die Vordenker-Partei (die seinige) ihre Rolle auch in Zukunft wahrnehmen werde, nicht nur national, auch regional. Er gab der Hoffnung Ausdruck, dass die von ihm und seinen Mitstreitern angedachten Lösungen der geplanten regionalen Grossprojekte auch weiterhin breite Unterstützung finden würden.
 
„Fragt nicht, was die Region für Euch tun kann, sondern, was ihr für die Region tun könnt.“
 
schloss er in Anlehnung an J.F. Kennedy. Dieses widerliche Schlusswort, das zu Sebastians grosser Erleichterung auch keinen Applaus auslöste, wurde zwar vom Vorsitzenden noch verdankt, aber die Fotografen blitzten für einmal nicht. Kasser blieb im lauen Presseschatten stehen. Sebastian schmunzelte, das erste und einzige Mal an diesem Abend. Es war die Fröhlichkeit eines Schadenfreudigen und er genoss sie sehr.
 
 

Die erste interkantonale Sitzung
 
Alle Kantone waren eingeladen worden, doch nur die betroffenen waren nach St. Mühleberg gekommen. Zwar war der Rücklauf der Fragerunde an die kantonalen Polizeikommandi 100%, aber weitere Hinweise oder ähnliche Szenarien zu den Vorkommnissen gab es nicht oder waren zumindest nicht aktenkundig.
 
So blieb die Sitzungsrunde klein und überschaubar. Im Hotel St. Stephan versammelten sich im Konferenzraum zum hl. St. Martin die Vertreter der involvierten Kantone. Eröffnet wurde die Tagung vom Schwyzer Justiz- und Polizeidirektor Binswanger. Er begrüsste den neben ihm sitzenden kantonalen Polizeikommendanten Bisig, weiter den welschen Freund Pelletier, der den Kanton Jura vertrat, Steinegger vom Kanton Zug und Duval, dessen Präsenz er sich nicht erklären konnte, Willisegger vom hiesigen St. Mühleberg und schlussendlich den vom ihm eingesetzten Untersuchungsrichter Schoch, ein kleiner, smarter, cleverer Typ, der seit jeher in seiner Gunst stand. Binswanger legte in seiner politischen Karriere immer Wert auf gute verlässliche Liaisons, auf der exekutiven wie auch auf der judikativen Seite. Er war der festen Überzeugung, dass ein menschliches Schutzschild gegen die eigenen Unzulänglichkeiten beruflicher und menschlicher Art nicht schaden konnte. Und auch wenn man es noch nie in Anspruch genommen hatte, besass man doch so etwas wie einen Bonus, den er jedoch noch nicht einzulösen brauchte, zumindest bis dato noch nicht. Binswanger sass fest in seinem Regierungssattel und Schoch war sein Steigbügelhalter, aber auch – und das wusste jedermann im Kanton – sein Protégé. So klinkte sich Binswanger nach der Bekanntgabe der Traktandenliste aus der Diskussion aus und nahm geistig die Rolle des halbinteressierten, zwangsanwesenden Zuhörers ein.
 
Nach einem weiteren kurzen Begrüssungswort – diesmal vom Polizeikommandanten Bisig - war der verantwortliche Untersuchungsrichter an der Reihe. Schoch, der Cleverle, ging sofort medias in res. Er wählte den chronologischen Ablauf der Dinge. Über Ziel und Zweck des Treffens brauche er sich nicht mehr zu äussern, meinte er. Binswanger hatte dies bereits in der Einladung nachhaltig aus- und in seiner Begrüssung nachformuliert. Da Schoch aber nicht nur Informationen aus erster Hand wollte, sondern auch Wert darauf legte, sich selbst ein Bild über die Persönlichkeitsstruktur der fallbearbeitenden Polizeibeamten zu machen, sollten die Dossierverantwortlichen jeweils in einem Kurzreferat ihre Kollegen informieren, was wirklich geschehen war und wo für sie die kriminaltechnisch relevanten Fragen steckten.
 
Als erster referierte Polizeimann Willisegger über St. Mühleberg. Etwas nervös und leicht aufgeregt ordnete er zunächst seine Präsentationsfolien vor dem Hellraumprojektor ein. Er verwies gleich zu Beginn seines Beitrags in seiner knurrig leutseligen Art, dass er erst Monate nach dem Ereignis in die Tatkenntnis gesetzt wurde und infolgedessen nur fragmentarisch, tatretardiert Bescheid geben konnte. Er erstattete Bericht über die Aufzeichnungen von Pater Anselm. Er liess kein Detail aus und vergass auch nicht, unterschwellig dem Kloster St. Mühleberg eine eigene sakrale Rechtsstaatlichkeit analog dem Vatikan zu unterschieben.
 
Er zeigte Folien des Tatorts, wort- und gestenreich und vermittelte seinen Kollegen, wie er die angetroffenen Szenarien wahrgenommen hatte. Als er zu einer Persönlichkeitsanalyse des Täters oder der Täterin überleiten wollte, bremste ihn Schoch vielleicht etwas voreilig, sanft zwar, aber dezidiert mit dem Verweis auf die Traktandenliste aus und eröffnete die Fragerunde. Die Teilnehmer jedoch waren noch in der Aufwärmphase. Eine Wortmeldung oder Fragestellung gab es nicht.
 
Es folgte der erste Auftritt des Tapirs. Pelletier zeigte zur Einstimmung eine Power Point-Präsentation des Etang de la Joie, so wie er sich normalerweise im Sommer präsentierte. Er ging auf den Wortlaut des Gesprächs mit Leonie und Rushdy ein und verfehlte nicht, seine persönliche Wahrnehmungen und Einschätzungen der Informanten preiszugeben. Um das Ganze nochmals zu visualisieren, zeigte er quasi als Schlussbouquet den genauen Ort des Geschehens aus verschiedenen Perspektiven. Medientechnisch geschickt waren die Schuhspuren nachgestellt – so wie von den Zeugen beschrieben – und man sah den schwarzen, 4-fach angesägten Rettungsring mit je einer weissen Nelke und den Zettel mit der Inschrift:
„Hüte Dich vor dem tiefen Sumpf!  Er lässt Dich nicht mehr los. R.“
 
Dieses Szenario kostete er aus. Er liess fünf verschiedene Bilder aus stets neuen Blickwinkeln einfliegen resp. einmontieren. Man sah der Ort des Geschehens aus der Vogelperspektive, vom Weiher aus, aus dem Unterholz, aus der Sicht des ahnungslosen Wanderers und zuletzt gar aus dem Blickwinkel eines möglichen Opfers. Auf seiner Schlussfolie stellte er die provokative Frage „Quo vadis?“. Binswanger war aus seinem Williseggerschen Halbschlaf erwacht und Schoch war zum ersten Mal echt beeindruckt.
 
Nun war die Reihe an Steinegger. „Der Bär“ erhob sich und stampfte erstaunlich behend nicht hinter, sondern vor das Rednerpult; in seinem Gefolge, was jedem schon von Anfang an aufgefallen war, sein Kompagnon Duval, den er selbstherrlich gleich an das Treffen mitgenommen hatte. Steinegger wollte nicht klotzen, wollte nicht angeben; er meinte einfach, dass die Wahrnehmungen von Duval für das Ganze auch nützlich sein konnten. Die Pingeligkeit von Duval könnte für einmal ja auch etwas Gutes an sich haben. Steinegger war der Erste, der selbst erlebte Fakten präsentieren konnte, der Fotos lieferte und Protokolle verlesen konnte, die à la minute vor Ort verfasst wurden. Steineggers Schilderungen waren spannend und gingen unter die Haut. Man sah geistig das Ganze schon ziemlich genau, bevor die Dias die eigene Phantasie bestätigten. Man spürte förmlich seine Passion, die unbekannte Täterschaft zu überführen.
 
Duval war wie üblich im Hintergrund. Er war der Regisseur der Zuger Präsentation und beobachtete die Teilnehmer aufs Genaueste. Willisegger tat er ab und klassierte ihn als Repräsentant einer vergangenen Polizeiaera, der Generation der bürgernahen Softies. Pelletier attestierte er zwar einen frischen, rhetorisch ansprechenden Auftritt, reihte ihn aber knallhart in die Kategorie der interkantonalen Blender ein. Und Steinegger? Na ja, nicht so fähig wie er, aber trotzdem kein schlechter Typ, beinahe ein vertrauter Kumpel.
 
Steinegger provozierte den Dialog mit den Seminarteilnehmern und bezog bei seinen Voten immer wieder Duval in die Meinungsbildung mit ein. Dass ihre Ansichten nicht immer kongruent waren, bereicherte den Beitrag der Beiden sehr und zeichnete das Bild einer funktionierenden, intakten kriminologischen Meinungsbildung.
 
Pelletier war es vorbehalten, mit den Ereignissen auf dem Mont Chasse fürs Erste den Schlusspunkt zu setzen. Sein zweites Referat ging er, wie es nicht anders zu erwarten war, anders an als das erste. Er berichtete alles aus der Sicht des Kronzeugen. Er war gleichsam René; denn er spielte die Rolle perfekt. Im Hintergrund auf der Leinwand hatte er mittels Hotelbildern den morgendlichen Weg von René simuliert. Pelletier erlaubte sich sogar im Tagungslokal selbst eine Zigarette anzuzünden, wie damals René im Speisesaal.
 
Steinegger war begeistert, Binswanger ausnahmsweise wieder mal konzentriert, Willisegger ob der scheinbar neuzeitlichen Polizeimethoden etwas irritiert und Schoch studierte, auf was das Ganze hinauslaufen sollte. Als der Tapir seinen schauspielerischen Auftritt abgeschlossen hatte, erschien auf dem Screen die Kardinalfrage:
 
„Warum gerade im Hotel Mont Chasse?“



Fasnacht in Fahrenbach am See
 
Der schmutzige Donnerstag war seit jeher den Narren vorbehalten und dies wollte sich Sebastian zu Nutzen machen. Sein nächstes Szenario war eine brutale Erdrosselung, wenn möglich am See. Eine Pseudoleiche, angespült in der Nähe einer Schiffanlegestelle während der Fasnachtszeit war seiner Meinung nach eine sehr reizvolle Herausforderung. Was wären die Reaktionen der Vorbeilaufenden? Wie würde die Presse reagieren? Sebastian steigerte sich in eine Handlungseuphorie, die er mit seinem Verstand nur sehr schwer bremsen konnte. Jedes Detail musste seriös durchdacht werden, das wusste er. Schnellschüsse sind immer sehr gefährlich und könnten das Ende, das endgültige Aus seines Projekts bedeuten.
 
Also nahm Sebastian sich die nötige Zeit und perfektionierte seinen Plan. Meistens nachts im Traum oder gar Halbtraum kam er auf die skurrilsten, narrensichersten Lösungen. Und so geschah es! Am Fasnachtsfreitag-Morgen schlenderte Sebastian in einem Waggis-Kostüm, den Besoffenen imitierend am Seeufer entlang in distanzmässig immer wieder wechselnden Endlosschlaufen rund um den erwürgten Köder, den er ausgeworfen hatte. Er beobachtete die Reaktionen der maskierten und unmaskierten Passanten.
 
Auf dem sandigen Strandbereich in der Nähe der Schiffanlegestelle lag ein vornehm gekleideter maskierter Modegeck mit typischen Manager-Attributen, Gesicht nach unten, rote Pappnase im Wasser, schwarze Wichser-Schuhe im Schlamm, eine braune Schlinge um den Hals und daneben zwei orange Killer-Handschuhe verstreut auf dem Weg zum Strandquai. Bei genauerem Hinsehen merkte man zwar, dass es sich um eine Puppe handelte, doch die Botschaft, die über den letztjährigen Schifffahrplan geklebt wurde, war happig:
 
„Geniesse die Fasnacht. Es wird deine letzte sein! R.“ 
 
Die Reaktionen der Vorbeischlendernden waren unterschiedlich. Die Einten reagierten auf die erwürgte Puppe im Wasser leicht enerviert, andere absolut teilnahmslos. Wieder andere lasen die Botschaft am Anschlagbrett und der Rest war mit sich oder ihrem Fasnachtspartner auf Zeit beschäftigt. Vom Gar-nicht-merken, über süffisantes Lächeln; von fasnächtlicher Gleichgültigkeit und Toleranz bis hin zur unverstehenden, ablehnenden Mimik war alles zu sehen. Nur wenige zeigten sich entsetzt. Angst und Schrecken zeigte niemand. Für Sebastian war das Ganze ein Flop, im wahrsten Sinn ein Schlag ins Wasser.
 
Bis Sie auftauchte! Sebastian traute seinen Augen kaum. Wer fadengerade auf ihn zusteuerte, war niemand anders als die Crettenans. Was hatte die denn am Fahrenbachersee zu suchen? Sebastian war nur für wenige Augenblicke verunsichert, bis ihm bewusst wurde, dass er sich im Narrenkleid sicher fühlen konnte, vor allem wenn er sich nicht in einen Dialog einliess.
Als die Crettenans mit ihrer rauchigen shabby-chic-Stimme auf Anmachertour ging, blockte Sebastian den schnäbi-figg-Angriff geschickt mit einer knallharten Gehörlosen-Retoure ab. Die Crettenans suchte das Weite und Sebastian atmete tief durch. Hätte noch gefehlt, dass das Primi-Weib per Zufall gar zu gesamtschweizerischer Medienpräsenz gekommen wäre. Im Übrigen hatte das gleichgültige Verhalten der Rüebliländer seine Nerven schon längstens überstrapaziert. Er wollte nicht mehr, er konnte nicht mehr, er hatte einfach genug.
 
„Sebastian Kleiber nach Hause gehen!“ dachte er und er ging.
 
 

Es wendet sich zum Guten
 
Die ranzige Laune von Sebastian besserte sich am Fasnachts-Samstag, als er sah, dass er die Titelseite des Blick gestürmt hatte. Tussaud-Sebastiani hatte es geschafft! Endlich eine supergrosse Vollfett-Headline 
​"Psycho-Waldemord jetzt im aarGAU"
   

​Scheinbar war er doch zu früh abgehauen; denn auf der Frontseite sah er mehrere Fotos, u.a. eine grosse Schar maskierter und unmaskierter Gaffer und ein Grossaufgebot an Polizisten. Mehrere Streifenwagen mit allerlei Beamten und vielen Reportern und Privatpersonen, welche das kriminalnahe Strandszenario protokollierten und fotografierten, heimlich die Zuschauer und parkierenden Autos knipsten, bis die Obrigkeit nach Stunden endlich auch die Requisiten und die leblose Puppe irgendwie von der Bildfläche verschwinden liess.
 
Happige Einzelkommentare widerspiegelten querbeet den durchschnittlichen Bildungsstand der schweizerischen Bevölkerung. Von äusserst einfachen, verurteilenden Kommentaren bis hin zu gesellschaftskritischen Aussagen war alles zu lesen. Die Medienlandschaft – nicht nur der Blick, auch seriöse Tageszeitungen – begann sich im grossen Stil zu interessieren. Das Phantom war daran, die Stammtischrunden zu erobern und den Sport und das Dorfgeschehen als Lieblingsthemen zu verdrängen.
 
Auch Hartmann beschäftigte sich mit der Erdrosselung am Fahrenbachersee. Auf einer Landkarte trug er die bisherigen „Tatorte“ ein und bemerkte einen Trend, den ihn zutiefst verunsicherte. Das Ganze begann sich zumindest auf der östlichen Achse langsam auf die Regio Basiliensis zu fokussieren.
 
Das will überhaupt nichts heissen, dachte er; aber es war nun mal so. Je länger er darüber nachdachte, desto bedrohlicher erschien ihm das Ganze. Vor allem nachts. Er machte sich Gedanken über seine Intimfeinde und deren gab es immer mehr. Gerade vor wenigen Tagen hatte er im Geschäft wieder mal einen Disput mit Bernegger, den er heute noch nicht verwunden hatte. Ausgerechnet mit Bernegger, einem grossen kräftigen, brutal aussehenden Mitvierziger, einem menschgewordenen Pitbull mit reissenden vorstehenden Zähnen und einem Bizeps, der selbst seine robusten Walbusch-Hemden zu sprengen drohte. In seiner Gegenwart war es Hartmann nie geheuer, von Anfang an nicht. Er hatte immer das Gefühl Bernegger würde ihn aus dem Raume fegen, ihm die Energie abwürgen, ihn irgendwie ausmerzen.
 
Aber es gab noch andere, die ihm massiv in die Quere kamen, im Geschäft und in der Gemeinde: Kohler, Dupperet, Saladin, Meier-Bruderer, Stoffel, Waldmeier, Berger u.a.m.
 
Er war froh, dass er vor ein paar Wochen an einem internen Geschäftssymposium von der Corona der Crown- und Moneymakers des Konzerns Hinweise spürte, dass er für eine Top-Kaderstelle im Wallis ein Thema war. Seine Karten waren, so wie er spürte, nicht schlecht und eine Ortsveränderung in den rauen Teil der Romandie würde ihm als zweisprachig Aufgewachsenen sicher auch gut anstehen.
 
Geistig hatte er mit Maisingen schon am nächsten Tag abgeschlossen. Er verfasste über das Wochenende rein spielerisch schon mal sein Rücktrittsschreiben als Gemeindepräsident und Gemeinderat.
 
Es lag fortan bereits unterschriftsbereit zu Hause auf seinem Arbeitstisch. Sein Psychiater hatte ihn überzeugt, dass die Zeit für einen neuen Lebensabschnitt gekommen war; denn Hartmann brauchte neue Energiequellen, andere Inhalte und positive Kontakte mehr denn je.
Er hoffte trotz des zunehmend sinkenden Selbstvertrauens mehr denn je, fast verzweifelnd auf die positive Botschaft, die geschäftlich im Raume stand.
 
 

Die Crettenans für einmal geschockt

 
Als die Crettenans die Boulevard-Presse las, fielen ihr beinahe die Augen aus dem Kopf. Sie war dabei und bemerkte es nicht. Wahrscheinlich war sie eine der Ersten am Ort des Geschehens. Sie ärgerte sich grün und blau. Vor ihren Bestätigungswahlen einen solchen Gratiswerbespot zu für ihre eigene Kandidatur so zu versemmeln, machte sie obermadig. Es kochte in ihr bis hin zu ihrer angedunkelten, feministischen Seele und sie stellte sich, was für sie absolut aussergewöhnlich war, wieder einmal selbst in Frage; ohne allerdings eine Antwort zu suchen.
 
Nach ein paar Stunden hatte sie zu einer allerdings löchrigen und biegsamen Balance zurückgefunden und schlug ihren bewährten Weg zur eigenen Frustbewältigung wieder einmal ein. Sie erzählte jeder und jedem von ihrem Erlebnis in Fahrenbach, von ihrem ausgelassenen Strandspaziergang, von ihren Begegnungen mit leicht angesäuselten bis schwer angeschlagenen Maskierten und der grausigen Puppe im seichten Strandwasser des Fahrenbachersees, die sie in Tat und Wahrheit gar nie gesehen hatte. Sie verkaufte sich gut, sehr gut sogar. Wer  in der Gemeinde und bald im Kanton politisieren will, weiss sehr schnell mit welchen Schummeleien man seine Zuhörer in den Bann ziehen kann. Und so musste in den nächsten Tagen jeder ihrer Bekannten daran glauben, auch Kasser.
 
Ideen-Ede hörte zwar nur halbherzig zu und gab sich  unbeeindruckt. In seiner schmalzigen Art, lächelte er unverbindlich und riet ihr, einem Seelendoktor gleich, die Presse nicht zu ernst zu nehmen. Das Ganze sei eine krankhafte Selbstinszenierung eines mutlosen Psychopathen, dem die schweizerische Medienlandschaft der Headlines und Sensationslust willen viel zu viel Beachtung schenke.
 
Diese typisch männlich einfache Interpretation der Geschehnisse und die ihrer Meinung nach herablassende Art der Kommunikation war Gift für die feministische Ader der Crettenans, die nun ihre rhetorischen Stacheln ausfuhr. In ihrer rauchigsten Stimmlage titulierte sie ihn einen typischen Vertreter eines maskulinen Verdrängungskünstlers, der den Tatsachen nicht in die Augen schaue und nicht bereit sei, die Tiefgründigkeit der ganzen inhärenten Problematik zu ergründen. Was übrigens auch das Hauptproblem seiner Macho-Partei sei, die wieder mal, von ihren Geldgebern weichgeklopft, sich zu einer Nein-Parole zu einer sinnvollen Initiative habe überreden lassen.
 
Kasser verlor kurz seine Fassung. Von seinem legendären Sweet-and-sour-Lächeln blieb für ein paar Minuten nur noch das „sour“ übrig. Das „sweet“ kam erst zurück, als sich die Crettenans mitten auf der Strasse eine Gitane anzündete und ihn wie eine Strassennute von oben bis unten musterte. Wenn seine Männlichkeit auf den Prüfstand kam, setzte Ideen-Ede seit jeher auf sein Macho-Lächeln. Dem blieb er ein Leben lang treu. Der Schauspieler hatte zurückgefunden zu seiner Standard-Rolle: „Cool Man, devilish Smile!“ So gingen sie denn halbversöhnt auch wieder auseinander.


 
Warum gerade im Hotel Mont Chasse?
 
Die von Pelletier in den Raum gestellte Frage: „Warum gerade im Hotel Mont Chasse?“ hatte Schoch, der eingesetzte Untersuchungsrichter, aufgenommen und die anwesenden Persönlichkeiten gebeten, ihm bis Mitte März mögliche Beweggründe mitzuteilen.
 
Schoch las interessiert die Überlegungen der Kriminalisten. Einig war man sich, dass es zwischen der Täterschaft und dem gewählten Tatort eine besondere Beziehung geben musste. Die Frage war nur welche. Eigentlich war man uni sono auch der Meinung, dass kein Hotelangestellter in Frage kam und dass kein Silvestergast die Dreistigkeit besass, als einfach identifizierbarer Tourist eine solche Inszenierung zu veranstalten, vor allem in der Silvesternacht nicht, wo im Minutentakt jemand auftauchen konnte.
 
Schon eher glaubte man grossmehrheitlich an die Version eines fremden Dritttäters, den ein anwesender Zufallszeuge auch als bisher unbekannten Nachtportier hätte einschätzen können. Deshalb war der Gedanke von Pelletier – Warum gerade im Hotel Mont Chasse? - nicht unberechtigt.
 
Duval meinte, dass der Täter in irgendeiner Form eine Beziehung zum Hotel haben musste. Vielleicht war er langjähriger Gast als Langläufer auf dem Mont Chasse oder einstiger Stammgast im Lokal. Zudem kam ihm der Wirt etwas zwielichtig vor. Hatte er oder gar das Hotel eine kriminelle Vergangenheit? Die provokative Frage von Duval, wieso man keine DNA-Proben genommen hatte, grenzte beinahe an Majestätsbeleidigung ausser für den anvisierten Tapir. Auf die umgehende schriftliche Anfrage von Schoch gab Pelletier zu, dass er in Unkenntnis sämtlicher ähnlicher Vordelikte die Lage zuerst falsch eingeschätzt habe und die Tragweite zu jenem Zeitpunkt noch nicht erkannt habe. Zudem habe es bisher noch keine Opfer gegeben. In seiner damaligen Beurteilung wäre ein solch massiver Einsatz einer kriminaltechnischen Einheit vom personellen und auch vom finanziellen Aufwand her gesehen unverhältnismässig gewesen. Es bringe nichts, Versäumtem nachzutrauern, sondern es gehe darum, mit intensiver Denkarbeit weiteren Schaden, sprich Gefahr für Leib und Leben für eines oder mehrere Opfer zu verhindern.
 
Steinegger fielen u.a. vor allem die vielen Rückzugsmöglichkeiten im architektonisch verwinkelten Gebäude auf. Auch sein Fokus richtete sich auf „Stammgäste“ mit der Begründung, dass ein solch aufwendiger Nachtauftritt ohne genaue Kenntnisse der Liegenschaft und seiner Raumverhältnisse gar nicht durchführbar wäre.
 
Willisegger machte darauf aufmerksam, dass das Hotel etwas verfallen war und in den letzten Jahren scheinbar nichts mehr investiert worden sei. Man müsste eventuell auch den alleinstehenden Wirt etwas genauer unter die Lupe nehmen. Er schätzte ihn, da er das Hotel und dessen Gérant seit seiner dortigen militärischen Einquartierung kannte, als einen besonders abgeschlagenen Hund ein. Des Weiteren stellte er die Frage, ob wirklich jeder, der in letzter Zeit eine Nacht in diesem Hotel verbracht habe, auch gesetzeskonform registriert wurde. Auffällig für ihn war auch die Tatsache, dass auf die Schnelle beim Hotel kein Nachweis über die militärischen Beherbergungen verfügbar war. Hatte der Täter seinen Tatort im Militärgewand gesichtet? Zeit zum Erkunden hätte man als Diensttuender im Kommandoposten einer Stabseinheit ja zur Genüge, sei es im Bataillon oder im Regiment.
 
Schoch verinnerlichte sich zum x-ten Mal die eingegangenen Stellungnahmen: Es bewährte sich einmal mehr, dass er sich lange Berichte verbeten hatte. Er hatte kurze, schlanke Beweggründe oder Auffälligkeiten in der maximalen Grösse von einer halben A-4-Seite verlangt; denn das vereinfachte ihm – das wusste er - nachhaltig eine Schwerpunktbildung.
 
Pelletier’s Stellungnahme fehlte noch. Wie nicht anders zu erwarten war, hatte er um eine Fristverlängerung von einem Monat nachgesucht mit der Bitte, ihn über die Mutmassungen seiner Kollegen ins Bild zu setzen. Schoch war sogleich klar, dass der Tapir Blut geleckt hatte und das Ganze etwas egoistisch als riesige persönliche Herausforderung anpackte.
 
Schoch störte dies nicht gross; er war erfolgsorientiert. Wer schlussendlich den Täter überführte, war sekundär. Die Hauptsache war, dass sie ihn schnappen konnten. Nachdem er das Ganze trotz x-nächtlichen Wachstunden zwei Mal überschlafen hatte, schritt er zur Tat.
 
Er liess 1. den Leumund von sämtlichen Silvestergästen überprüfen und unterzog den Wirt einer besonders intensiven Nachbefragung mit dem Ziel, ihn und seine Denkweise besser nachvollziehen zu können. 2. wollte er wissen, welche Gäste in den letzten 5 Jahren drei und mehr Mal auf dem Mont Chasse in den Ferien waren. 3. Welche Autos waren in der fraglichen Nacht vor dem Hotel parkiert und welches war ihr Nummernschild? 4. Welche Autos fuhren im Kanton Jura am 13. oder 14. Juli des Vorjahres in eine Radarkontrolle. Vielleicht gab es da einen zufälligen Glückstreffer parallel zum Ereignis am Etang de la Joie! 5. Welche Stabseinheiten benutzten das Hotel in den letzten 5 Jahren als Kommandoposten und welche Schulen benutzten es als Ski- oder Sommerlager? und 6. sollten alle schweizerischen Polizeikommandi gebeten werden, beim nächsten Ereignis wenn möglich am Tatort DNA-Proben zu entnehmen.
 
 

Die Hetzjagd der BuSiPo im Tanneggberg

 
Sebastian, der seit seiner Jugend stets eine tiefe Affinität zum solothurnisch-bernischen Tanneggberg verband, sah sich mit Gott und der Welt verbunden im tiefen Waldgehölz auf der Suche nach Pilzen, nach Gletscherli, nach Bovisten, nach Kraterellen, nach Täublingen aller Farben, nach echten Reizkern, nach Pfifferlingen, nach Stein- und anderen Speisepilzen. Gerade als er im Unterholz einen Schwarm von Totentrompeten entdeckt hatte und er seiner Leinentasche das Sackmesser entnahm, hörte er von weitem ein Gebell von Jagdhunden, die scheinbar auf ihn zukamen. Die nahe gelegene Schneise ermöglichte ihm einen kurzen Blick über das weite Feld. Und was er sah, bestätigte seine schlimmsten Vorahnungen. 
 
Die Hundemeute, zirka zehn Bestien an der Zahl folgte seinen Spuren von Müetigen her, wo er seinen roten Mini parkiert hatte. Dahinter ein Polizeiaufgebot, das es in sich hatte. Die mit Busipo angeschriebenen Polizeihunde fletschten bösartig und blutrünstig und obwohl sie sich scheinbar die Lunge aus dem Leib kotzten, kamen sie nur langsam näher. Dahinter die Hüter des Gesetzes mit Schutzmasken, welche die Anstrengungen ihrer Jagdbemühungen durch einen immer wiederkehrenden Atemdampf anzeigten.
 
Sebastian nahm blitzartig Reissaus. Er wusste intuitiv, dass sie es auf ihn abgesehen hatten, dass er der Gejagte war. Er war aufgeflogen, er war identifiziert, schoss es ihn durch den Kopf. Sie wollten ihn dingfest machen, aber so leicht gab ein Kleiber nicht auf, schon gar nicht, wenn er wie Sebastian, der letzte seines Geschlechts war.
 
Trotzdem kamen seine Verfolger immer näher, langsam zwar aber stetig, Angst einflössend und furchterregend. Sein Weg wurde zu seinem Erstaunen immer enger und er immer wie kraftloser. Seine Füsse wurden schwerer und schwerer, die beiden Schuhe waren tanggig und schwer wie aus Blei. Seine Energie schwand mit jedem Schritt. Nach 2-3 Kilometern konnte er seine Füsse kaum mehr kontrollieren. Er brachte das rechte nicht mehr vor das linke und das linke nicht mehr vor das rechte Bein. Den Hunden und seinen Züchtern schien es ähnlich zu gehen, obwohl sie immer noch leicht an Boden gutmachten. Sebastian spürte förmlich wie die Erde des Waldes an seinen Schuhen klebte und war nahe an einem Herzinfarkt. Sein Herz popperte wie wild, sein Brustkasten verengte sich.
 
Er sah sich auf einmal inmitten einer riesengrossen, buntfarbigen Seifenblase. War er durch sie geschützt oder gefangen? Er sah, wie die ersten Busipo-Scharfschützen auf Baumästen und Waldwipfeln in Stellung gingen. Sebastian geriet in Panik. Von überall her sah er Zielfernrohrkarabiner auf sich gerichtet. Er stolperte und verlor schliesslich die Kontrolle über seine Beine. Was er im letzten Augenblick noch mitbekam, war, dass er über ein paar Totentrompeten gestürzt war und dass die gewaltige, wunderschöne Seifenblase, die ihn in den letzten 50 m umgab, von einem Scharfschützen getroffen, brutal zerplatzte. Sebastian erwachte schweissgebadet. Der Albtraum liess ihn los. Die Welt hatte ihn wieder eingeholt und damit auch die Realität.
 
 
Das strategische Rätsel

 
Auch Kasser hatte schlecht geschlafen, aber aus einem ganz anderen Grund. Er wurde einfach nicht schlau, was Hartmann bezweckte. Sein letztes Gespräch mit seinem Parteikollegen und Langzeitverbündeten gab ihm ein Rätsel auf, das er nicht knacken konnte. Es begann damit, dass ihn Hartmann in eine weitschweifige Diskussion über die Globalisierung der Wirtschaft zog, um dann davon einige, seiner Meinung nach sinnvolle Analogieschlüsse auf die Politik abzuleiten. So offenbarte er, dass er sich schon seit geraumer Zeit mit der Fusionsproblematik von kleineren und mittleren, vor allem ländlichen Gemeinden befasste.
 
Kasser war bas erstaunt, denn seit Jahren galten er und Hartmann als Hardliner der Verfechter der Gemeindeautonomie. Immer wieder kämpften sie gemeinsam an vorderster Front, wenn der Kanton zentralisieren wollte. Wenn auch nur ein Zipfelchen der dörflichen Autonomie angetastet, geschweige denn angeschnitten werden sollte, fuhren die beiden mit schwerem Geschütz auf. Und nun dies!
 
Eine 180°-Grad Wendung. Und als Hartmann gar davon redete, dass sie als Pioniere der Vordenkerpartei vorangehen könnten, hatte selbst der schmierige Kasser beinahe einen Schluckauf-Anfall. Hartmann konnte sich eine Fusion ihrer beiden Gemeinden sehr gut vorstellen, so wie sie das erfolgreich mit ihrem neuen Kompetenzzentrum für das Alter  gemacht hätten.
 
Den Einwand von Kasser, dass ihre Gemeinden nicht angrenzend gelegen waren, tat Hartmann ab mit der Begründung, dass zwischen Nachbargemeinden oft ein über Generationen gewachsenes Konkurrenzdenken herrsche. Er sei lange genug Politiker um zu wissen, dass man bei einer solchen Ausgangslage auch mit den besten Argumenten keine Chance habe. Die Globalisierungsthematik in der Weltwirtschaft würden eh nur wenige und zudem privilegierte Mitbürger verstehen. Darum musste jemand, müssten sie seiner Meinung nach vorangehen. Ihre beiden Gemeinden seien einander gegenüber im Grunde genommen wohlwollend und freundschaftlich verbunden. Das Risiko eines Scheiterns sei relativ klein. Die Presse habe man jedenfalls bei solchen Ideen meistens hinter sich. Kein Pressemensch wollte sich ein hinterwäldnerisches, konservatives Image zulegen. Zudem dürfte es auch gar nicht schaden, die Gemeinden im Zwischenland politisch etwas in den Schwitzkasten zu nehmen. Der Fusionsdruck würde Jahr für Jahr steigen. In ein bis zwei Dezennien wäre die erste Grossgemeinde im Grünen sowieso schweizerische Realität.
 
Ideen-Ede blieb vorsichtig und spielte bewusst auf Zeit. Er gab frank und freimütig zu, dass er im Moment etwas überfordert sei und versprach, in den nächsten Tagen darüber nachzudenken. Zu viele Fragen waren offen, zu viele Eckdaten unbekannt und, was er selbst nie gedacht hätte, sie raubten ihm den Schlaf.
 
Die Idee an und für sich war ja gar nicht so schlecht. Die Strategie des Agierens sogar hervorragend. Ihre Gemeinden wurden zudem nicht von fremden Mächten zum Fortschritt verknurrt, sondern gestalteten ihre Zukunft aktiv selbst, was ja schlussendlich wieder mit Gemeindeautonomie zu tun hätte. Da würde er sich ja mehr oder weniger treu bleiben.
 
Zur Kardinalfrage hatte Hartmann geschwiegen. Wer würde das neue Gemeindeoberhaupt werden und welches war seine respektive die künftige Rolle seines Kontrahenden? Wenn dieser das wirklich wollte – davon war er noch nicht überzeugt -, wenn Hartmann das wirklich wollte, dann musste er, musste Kasser in die Offensive gehen. Aber vielleicht war ja das Ganze ein Test, ein fieser Trick von Hartmann.

 
Was steckte effektiv dahinter? Kasser erinnerte sich wieder einmal an die alte Politweisheit:
 
„Kommt Dir jemand ins Gehege, ist es meistens dein Parteikollege!“
 
Erhöhte Wachsamkeit war angesagt; das Spiel auf Zeit bei genauerem Hinsehen heikel; denn wer die Idee zuerst öffentlich thematisiert, gilt als der Schöpfer der ersten städtischen Grossgemeinden-Agglomeration im Grünen. Ideen-Ede wankte. Er war sich noch nicht so recht im Klaren, ob er wieder zuschlagen sollte und vor allem wann und wie. Kasser wusste buchstäblich nicht, was er vom Ganzen halten sollte. Er beschloss, vorerst mal zu schweigen und nichts zu tun. Rein gar nichts!
 
 

Sebastians stummes Frühlingserwachen
 
Zwei Tage nach Ostern, pünktlich zum Frühlingsanfang am 20. März beschloss Sebastian, seiner geliebten Knorz-Eiche wieder mal einen Besuch abzustatten. Die letzten Tage und vor allem die Nächte hatten ihn arg mitgenommen. Er versuchte immer wieder seinen jüngsten Traum zu deuten, konnte sich jedoch keinen Reim darauf machen. Vor allem die Seifenblase beschäftigte ihn. Bedeutete sie Schutz oder Gefangenschaft? Warum dieser Traum? Was wollte ihm sein Inneres sagen?
 
„Du bewegst Dich in Deiner eigenen Traumwelt!“
oder „Die Seifenblase beschützt Dich in Liebe!“ oder
„Du bist Gefangener Deiner Rachsucht!“
 
Wieso hatte dann die BuSiPo die Seifenblase abgeknallt? Um ihn von seiner Traumwelt zu befreien oder um seinen Schutzwall zu brechen oder seine Rachsuchtsgedanken von ihm abzuziehen? Sebastian kam nicht weiter, er wurde auch nach einem Blick in die Traumdeutung nicht schlau:
 
„Seifenblasen sind wunderschön, aber äusserst zerbrechlich. Sie erinnern den Träumenden daran, dass die Existenz des Menschen vergänglich ist, dass nichts immer währt. Sie lässt im Wachleben unsere Hoffnungen nur zu leicht zerplatzen. Bei diesem Traumbild sollten wir darauf achten, ob wir selbst oder andere die Seifenblasen herstellen, um daraus und aus anderen Symbolen zu lernen.“
 
Weiter unten las er weiter:  „ Auf der spirituellen Ebene symbolisiert die Seifenblase im Traum das illusionäre Element des allgemeinen Lebens. Seifenblasen gelten für das Misslingen eines Unternehmens. Inbezug auf das Sehen: man hüte sich vor Illusionen, weil es bittere Enttäuschungen geben kann. In Bezug auf das Herstellen: Eine Illusion, die zur Enttäuschung führen wird.“
 
Sebastian schaute noch kurz, was ein auf sich gerichtetes Gewehr bedeuten könnte und erhielt den Hinweis, dass er sich bedroht oder in die Enge getrieben fühlen könnte. All das gab ihm zu denken, brachte ihn aber nicht wirklich weiter. So beschloss er im Laufe des späten Morgens, wieder mal auf den Deppenplatz zu gehen. Als er circa 45 Minuten später an seinem Kraftort eintraf, hatte er beinahe einen Schock. Der Platz war in einem jämmerlich unordentlichen Zustand, die Knorz-Eiche stand hager und ausdruckslos da. Es war knackig kalt und die Sonne hatte keine Wärme. Sebastian war bitter enttäuscht und innerlich äusserst grantig auf die nächtlichen Vandalen, deren Alkohol- oder Drogenkonsum deutliche Spuren der gegen Morgen erreichten Unzurechnungsfähigkeit hinterlassen hatte. Er räumte die herumliegenden Bierbüchsen, die Konservendosen, Wurstschäleten und Brotreste auf und warf sie in den danebenstehenden Abfallkübel.
 
Obschon nun die Umgebung nun etwas ordentlicher aussah, wollte es ihm nicht gelingen, in ein Zwiegespräch mit der Knorz-Eiche zu kommen. Auf seine, allerdings auch etwas lustlos und innerlich verärgert gestellte Frage, was sein nächtlicher Traum bedeuten sollte, verweigerte die Eiche den Dialog. Noch keineswegs in Frühlingsform stand sie abgehärmt da und hatte nach seiner Wahrnehmung einen leeren, verwirrten, etwas desorientierten Auftritt, den Sebastian so nicht gewohnt war.
 
Das Schweigen nahm Sebastian seinem Kraftbaum übel. Nicht dass er der Knorz-Eiche die Liebe gekündigt hätte, aber er stapfte trotzdem etwas erzürnt davon. Beim Weglaufen zertrampelte er einen kleinen Hasen, der in Hunderte von Stücken zersprang. Was übrig blieb, war eine zerquetschte Packung, innen schokoladeverkrustet, aussen eine morastverdreckte Verpackung von Camille Bloch. Er liess sie am Boden liegen und suchte verärgert das Weite.
 
 

Schoch in der Sackgasse?
 
Die eingeleiteten Massnahmen von Schoch brachten keine weiteren Erkenntnisse. Kriminaltechnisch verharrten die Fälle auf dem Status quo. Die Recherchen über den Leumund der Silvestergäste brachten nichts Auffälliges, ausser zwei Detail-Betreibungen von Einzelpersonen, die nicht der Rede wert waren. Die Befragung des Wirts hinterliess auch bei Schoch ein zwiespältiges schummriges Gefühl. Aber ein schleimiges Wesen und ein öliger, nicht fassbarer Charakter sind ja noch kein Grund jemanden vorzuverurteilen, höchstens ein Grund zu erhöhter Wachsamkeit. Auf die Frage, welche Gäste in den letzten fünf Jahren eine oder mehrere Wochen auf dem Mont Chasse in den Ferien waren, reagierte der Wirt mit leichter Aggressivität, die sein Unvermögen, innert angemessener Zeit, vernünftig Antwort geben zu können, kaschieren sollte. Rein aus dem Stegreif gab er nichtsdestotrotz sechs Namen an, an die er sich zu erinnern vermöge. Seine Stammgäste hingegen zählte er – so wie Schoch annahm - lückenlos auf; es waren 11 Männer und eine Frau.
Lückenlos konnten auch die Kontrollschilder der Autos, die an der Silvesternacht beim Hotel parkiert waren, eruiert werden, ausser einem Nummernschild eines Verliebtenpaars, das ihr Gefährt an der Talstation der Zahnradbahn parkiert hatte und behauptete, sich auf einer Jurawanderung zu befinden. Die Überprüfung der jurassischen Radarkontrollen vom 13. und 14. Juli des Vorjahres (Etang de la Joie) ergab keine Übereinstimmung mit den „Silvester-autos“. Wie nicht anders zu erwarten war, blieb Schoch zur Beantwortung der Frage, welche Kommandoposten in den letzten drei Jahren im Hotel logiert hatten, nichts anderes übrig, als den militärischen Weg anzupeilen.
 
Schoch war einmal mehr in diesem Fall so klug wie als zuvor. Das Schicksal hatte ihm nicht in die Hände gespielt; kein Zufallstreffer, nicht mal einen sanften Hinweis. In seinem Infoschreiben an Binswanger, Pelletier, Steinegger, Duval und Willisegger verhehlte Schoch seine Enttäuschung nicht. Er stellte fest, dass sie alle momentan handlungsunfähig waren, da sie nichts in den Händen hatten. Der Täter war tatsächlich derzeit noch ein Phantom. In diesem Fall hatte die Presse nicht unrecht.
 
Schoch fühlte sich etwas ohnmächtig. Was ihn aber am meisten ärgerte, war die Tatsache, dass Pelletier noch immer keine Stellungnahme abgegeben hatte. Doch nach mehrtägigem Überlegen entschloss sich Schoch, beim Tapir nicht zu insistieren. Er wollte es sich mit der Achse West nicht verderben; denn Pelletier war im Moment der einzige Ansprechpunkt in der Romandie.
 
Schoch war der festen Überzeugung, dass – wenn wieder etwas geschehen würde – dies in der Romandie und zwar nicht im Kanton Jura passieren würde. Er hatte in seinem bisherigen Leben gelernt zu warten. Seine Zeit würde noch kommen. Die Frage war nur: wann? 
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Sebastians giftige Ader

Sebastian wusste: Jetzt wird’s eng! Er war nach der Fasnacht in Fahrenbach zu einem öffentlichen Thema vor allem der Rentner, der Arbeitslosen und der Sozialhilfebezüger geworden. Er hatte sich endlich nachhaltig in Szene setzen können. Er war das Phantom schlechthin! Er wurde verehrt, gehasst, verflucht und heimlich geliebt. Er war ein Monster, er war ein Held. Er wurde gejagt und beschützt; bloss niemand wusste, wer das Phantom sein könnte. Der Identifizierungswille der Bevölkerung, ob Freund oder Feind, war enorm. Wenn Sebastian aus dem Busipo-Traum etwas gewinnen konnte, dann die Erkenntnis, dass er von nun ab nicht nur der Jäger, sondern auch der Gejagte war. Nicht nur einer gegen Hundert, sondern einer gegen Abertausende und das erst noch ohne Joker.

Er war sich bewusst, dass er von nun an noch sorgfältiger vorgehen musste. Er plante deshalb seinen nächsten Event akribisch genau. Er überlegte, ob er für einmal auf der Ost-Achse bleiben sollte oder ob er den bisherigen, alternierenden Ereignisrhythmus beibehalten und wieder auf die West-Achse wechseln sollte. Nach längerem Abwägen entschied er sich, wieder in der Westschweiz zuzuschlagen, weil sein Vorhaben dort leichter umzusetzen und somit auch um einiges sicherer war.
 
Er kannte die Gegend von Beyonne-sous-Blaire sehr gut. Er erinnerte sich an eine Holzhütte mitten im verlassenen Wald. Er kannte seinen Besitzer und seine täglichen Gewohnheiten, die dieser durchzog stur wie ein Bock. Joseph – so hiess er - war ein kurliger Einzelgänger, auf sich allein gestellt; mittelgross, etwas hagere Gestalt, leicht bucklige Erscheinung; strähnige, meist ungepflegte Haare und ein üppiger, wilder Bart, der kaum zähmbar war und beinahe sein ganzes Gesicht bedeckte; im Grunde genommen ein Mensch gewordener Waldkauz,  der jedoch auf die Annehmlichkeiten eines warmen Zuhauses nicht verzichten wollte, vor allem nicht im Winter.
 
Im Frühling, im Sommer und im Herbst verbrachte er ab plus-minus 11 Uhr seine Zeit im Wald bei seiner Klause, die er mit der Zeit in eine kleine Besenbeiz umgestaltet hatte. Er nannte sie „Cabane au Trou des Sorcières“. Sie war der Geheimtyp für schräge Hundehalter, für unerkannt bleiben wollende Verliebte und für subventionslastige Mitbürger und grün angehauchte Alkoholiker. Seine Spezialitäten waren nur Insidern bekannt: Weiss- und Rotwein von Neuenburger Reben, Absinth grün
oder milchig weiss und immer mittwochs und freitags eine Torée - zu deutsch ein Hirtenfeuer – mit köstlichen Saucisses neuchâteloises und Pommes de Terre. Mineralwasser und Tee gab es für Jäger, Rechtsliberale, Ultra-Rechte und sonstig Kranke.
 
Sebastian, der, wenn er denn nur wollte, ein richtiges Chamäleon sein konnte und dessen Kleider im Wald auch schon mal an einen schweizerischen Harz 3–5 Empfänger denken liessen, hatte auch als „Sale Boche“ einen Sympathiebonus von Joseph erhalten. So war Sebastian nicht entgangen, dass Joseph in der kalten Jahreszeit in seiner einfachen Behausung im Dorf so etwas wie einen Winterschlaf hielt; normalerweise bis Mitte April, anfangs Mai, spätestens bis nach den Eisheiligen. Und das war seine Chance! An einem Freitag gegen Ende März rekognoszierte er subtil das Gelände, die Anmarsch- und Fluchtwege, den Zustand der Cabane und deren Vorplatz; studierte die regionalen Zeitungen und googlete die Homepage von Beyonne-sous-Blaire.
 
Was war wann los? Wann herrschten voraussichtlich die besten Bedingungen. Wie war die Wetterprognose? Wann verleidete es den Meisten, aus dem Hause zu gehen? Nach Abwägen sämtlicher Fakten entschloss sich Sebastian, am nächsten Dienstag – bezeichnender- oder sinnigerweise am 1. April - zuzuschlagen, aber nur wenn er sich körperlich und geistig fit fühlen würde und Lust dazu hätte. Diesem altbewährten Prinzip blieb er immer treu!
 
Am Dienstag war es düster und etwas regnerisch und Sebastian, der sonst solche Tage gar nicht mochte, wider Erwarten in Hochform. Er machte wie vorgesehen seinen Job im Wald und harrte der Dinge, die da kommen sollten. Und schon am Donnerstag war er in den Frontseiten der Schweizer Presse.
 
„Psycho-Waldemord schlägt wieder zu“ stand gross im Blick. Und darunter: „Die Polizei jagt einem Phantom nach und tappt seit Monaten im Dunkeln herum!“ Andere redeten vom „Aalglatten Psychopaten“, vom „Polizistenschreck“, von der „psychischen Vergewaltigung des instabilen Individuums“ oder gar „von einer zunehmend drohenden Massenhysterie mit Fragezeichen.“
 
Was war denn eigentlich passiert? Der Zufall wollte es, dass Joseph, kauzig wie er war, am frühen Mittwochmorgen das erneute Frühlingsklima benutzte, um seiner Cabane wieder mal einen Besuch abzustatten. Was er in seiner Waldschneise antraf, versetzte selbst den naturverbundenen Stoiker in helle Aufregung. Auf einem seiner vier langen Holztische, die er im Vorgarten seiner Cabane montiert hatte, fand er ein halbes, mobiles Labor vor mit diversen Reagenzgläsern, zwei Pipetten und einem Bunsenbrenner. Davor lag eine Schutzbrille mit leicht schwarz verkohlten Gläsern. Auf dem Tisch nebenan standen ein schmutziger, rot betupfter Reis-Teller, eine leere Weinflasche und ein halbvolles Glas mit grünem Absinth. Beim Nähergehen entdeckte Joseph eine erstaunlich echt wirkende Puppe, die einen älteren Glatzkopf darstellte, der scheinbar nach dem Trunk zusammengebrochen und seitlich auf eine Holzsitzbank gekippt war.
 
Joseph, der keiner Menschenseele je etwas zu leide getan hatte, überkam ein unflätiger Zorn. Er nahm den erst besten, etwas stabileren Holzast und fegte mit einem Schlag alles ratzekahl vom Tisch. Das halbe Labor lag auf dem Boden, der Rest auf der Bank; die Pipetten zerbrachen, einige Reagenzgläser zersplitterten und der Bunsenbrenner stand kopf und gab seine Brennflüssigkeit der gesunden Walderde ab. Auch das Gedeck und die Absinth-Flasche hatten das Ganze nicht schadlos überstanden.
 
Joseph hatte kurz durchgedreht, was sonst gar nicht seine Art war. Wenn er - was äusserst selten war - etwas missliebig auffiel, dann mit randständigen, etwas zweideutigen Bemerkungen. Dies aber nur, wenn er zu viel Weisswein getrunken hatte und auch nicht für lange; denn meistens liess dann sein Erinnerungsvermögen nach und seine Muskulatur erschlaffte von unten schleichend nach oben, d.h. von den Beinen, über den Magen, zum Mund bis zu seinen Pupillen und schliesslich seinen Augenlidern. Er hatte sich eben auf eine andere Bank gesetzt und etwas durchgeatmet, seinen Puls beruhigt und sein Herzflattern erfolgreich gedämpft als er auf der Eingangstür einen plastikgeschützten Menuzettel sah.
 
 
                         Tagesspezialität
 
 Fliegenpilzrisotto mit rahmigem Arsenhäubchen
 und Zyankali-Absinth                                           Sfr. 25.–
für grosse, ausgebuffte Politschweine
 
kleine Portion:                                                        Sfr. 15.–
für eher  kleinere Charaktersäue
 
                        Spruch des Tages
 
„Regle, was noch zu regeln ist, weil der Gelinkte nicht vergisst! A.“
 
 
Der Waldkauz war rat- und sprachlos. Er konnte nicht begreifen, was geschehen war und vor allem, warum gerade ihm das widerfahren war; ihm, einsam und verlassen im Wald. Dann sah er oben auf dem Menuzettel eine fliegende Hexe auf einem Besen und unten den Namen seiner Besenbeiz Cabane au Trou des Sorcières. Er war in einer Denksackgasse. Er hatte keine Ahnung, um was es ging.
 
Joseph setzte sich auf die äusserste Bank vielleicht auch, um etwas Abstand zum Ganzen zu kriegen und studierte nach. Aber je länger er nachdachte, desto dicker wurde sein Kopf. Nach circa einer halben Stunde kam er einzig zur Erkenntnis, dass er ohne Alkohol keinen vernünftigen Gedanken fassen konnte, geschweige denn im Stand war, einen sinnvollen Entschluss zu fällen. Er holte sich in der Cabane eine Flasche Neuchâtel und nippte nachdenklich am Glas, ohne den Wein wirklich zu geniessen. Nach der zweiten Flasche verspürte er einen langsam wachsenden Groll, der bei den ersten zwei Gläsern der dritten Flasche in die ihm vertraute Schlaffheit überging, bis ihn schliesslich der Schlaf im Freien übermannte.
 
Als Chételat, der heimische Förster, am frühen Nachmittag die Waldlichtung erreichte, traute er seinen Augen nicht. Das Szenario, das sich ihm bot, war noch um Etliches schrecklicher, als von Sebastian geplant. Als er von Weitem die Zuversicht rund um die Cabane des Sorcières sah, - am Boden ein seltsam gekrümmter Körper eines alten glatzköpfigen Mannes und auf der Holzsitzbank den flach über den Tisch gebeugten Körper von Joseph - dachte er gleich an Mord. Er hielt kurz inne. Sein Adrenalin-Pegel schoss in Sekundenschnelle auf Höchststand, alle seine Sinne waren hellwach. Er beobachtete die Umgebung mit geübtem Jägerblick. Er horchte die Waldgeräusche aus und versuchte auf dem übersinnlichen Weg zu erspüren, ob sich noch eine dritte Menschenseele irgendwo in der Gegend aufhielt.
 
Nach einer Weile, wo nur die ihm vertrauten Waldgeräusche zu hören waren, war er überzeugt, dass die Luft rein war. Er näherte sich vorsichtig der Cabane. Schon nach ein paar Metern glaubte er, ein leichtes Körperbeben, ein paar Schnaufbewegungen bei Joseph wahrgenommen zu haben. Als er am Nebentisch angekommen war, bestätigte sich sein Eindruck. Joseph, der alte Waldkauz, war offensichtlich besoffen.
 
Aber auf die verscherbelten Laborutensilien konnte Chételat sich immer noch keinen Reim machen und schon gar nicht auf die am Boden liegende Schaufensterpuppe. Zu skurril kam ihm das Ganze vor. Er hielt kurz inne, dachte nach und beschloss dann, Joseph zu wecken.
 
 

Hartmann feiert und haut ab
 
Hartmann hatte es geschafft. Er wurde konzernintern als Primus gewählt und an einem sonnigen Frühlingstag ins Château de Mon Repos - übrigens 18 Gault-Millau-Sterne -  zu einem lockeren Business-Gespräch eingeladen. Dabei eröffnete ihm der Verwaltungsratspräsident, der gleichzeitig auch die ganze globale operative Verantwortung trug, dass man ihn als Kronfavorit des Tochterkonzerns im Wallis gekürt habe und ihn eigentlich gerne als CEO berufen möchte. Das Gehalt bewegte sich konzernkonform in Millionenhöhe. Das Interesse von Hartmann war unbestritten. Was am Abend nach der einer edlen Flasche Château de Laffite noch offen war, war höchstens noch die Höhe einer allfälligen Abgangsentschädigung und die Summe der Spesen-Goodies. Jedenfalls gingen er und der sagenumwobene Flickenschild im besten Einvernehmen auseinander.
 
Hartmann wusste, dass er die wesentlichsten Hindernisse elegant aus dem Weg geräumt hatte; denn die weiteren Verhandlungen liefen über die Schienen von Flickenschilds Generalsekretärin, die zwar als Raffzahn bekannt war. Aber Hartmann wusste, dass Flickenschild entschieden hatte und er den Steilpass nur noch aufzunehmen hatte. Das Skoren in ein halbleeres Tor war ihm noch nie schwer gefallen. Die Geschichte der folgenden Tage ist schnell erzählt: Hartmann setzte sich grossmehrheitlich durch. Er eckte um 3% beim Bonus an und musste einen seiner Meinung nach zu ehrgeizigen, fremd diktierten Businessplan akzeptieren. Aber sonst war die Welt für Hartmann für einmal total ok.
 
Ein paar Tage später feierte er seinen Grosserfolg - vor allem im Hinblick auf den kommenden Geldsegen - in einem anderen sehr renommierten Luxus-Gastronomie-Betrieb zusammen mit seiner Familie und ein paar wenigen ausgesuchten Pseudo-Kolleginnen und -Kollegen, die er noch etwas beeindrucken wollte. Die Kündigung an die Gemeinde überarbeitete er schon am Folgetag, nicht ohne seine neue berufliche Stellung aufs Genaueste beschrieben und mit seinen neuen Titeln und Funktionen bezeichnet zu haben. Die Crettenans und Kasser genossen eine Sonderbehandlung; sie wurden noch vor den übrigen Gemeindeoberhäuptern in der Region exklusiv in Kenntnis gesetzt und mit öffentlichkeitswirksamen Details beliefert.
 
Der Crettenans verschlug es die Sprache. Im wahrsten Sinne des Wortes. Nicht so Kasser. Er erinnerte sich an das Gespräch mit Hartmann betreffend einer allfälligen Fusionierung der Gemeinden Maisingen und Heigrishofen und ihm wurde sofort klar, dass dies seine Chance war. Hartmann weg und Kasser auf dem Thron! Ideen-Ede zögerte nur wenige Stunden, bis er mit der regionalen Presse Kontakt aufnahm. Ihm als Vater der Fusionsidee stand dies auch ehrlich und redlich zu. Meinte er!
 
 

Waldemord erobert die Schweizer Presse
 
Waldemord schlug neue Rekorde. Nicht nur in der Westschweiz, vor allem auch in der Deutschschweiz, im Tessin, ja sogar in Süddeutschland eroberte der Vorfall in der Cabane von Beyonne-sous-Blaire die Headlines. Mal grösser, mal kleiner, aber immer auf der Frontseite. Sein Spitzname Waldemord war zwischenzeitlich überall eingefahren! Zumindest im deutschsprachigen Raum. Das Phantom entfachte eine Identifikationsbegierde, die unglaubliche Dimensionen annahm. Man kritisierte zwischenzeitlich die Unfähigkeit der kantonalen Polizeikorps, deren politisch gewählte Polizeikommandanten und vor allem den archaisch föderalistisch organisierten schweizerischen Polizeiapparat.
 
Unfähigkeit ist aller Laster Anfang oder noch präziser formuliert: der Anfang des dauernden Misserfolgs. Die Presseberichterstatter zeigten Fotos von der Cabane, publizierten die Menukarte, zeigten auf einem weissen Tuch die Glasscherben des mobilen Labors und visualisierten den Besitzer Joseph als  schrägen Eremiten, der aussah wie eine schrullige Schleiereule und sich in den Interviews auch entsprechend anstellte. Kommentatoren überschlugen sich in Einschätzungen, Vermutungen, Interpretationen bis hin zu wohlgemeinten oder auch besserwisserischen Ratschlägen. Kurz: Alles war ganz nach dem Geschmack von Sebastian. Für ihn interessant war vor allem, was die Leute dachten; in welche Richtung sie die Vorkommnisse interpretierten; ob das Volk oder zumindest der meinungsbildende Teil auf dem von ihm vorgedachten Weg angekommen  war. Er fragte sich, wo  in seiner Verwirrungstaktik allenfalls Korrekturbedarf angesagt und angebracht war.
 
Beim Studium der Presseartikel kristallisierten sich drei Grunderkenntnisse heraus: Es gab scheinbar zwei Achsen, die je in eine Richtung tendierten; es gab einen immer wechselnden Absender und es war scheinbar ein Psychopath am Werk, dessen Typica jedoch auch für die Fachleute noch nicht klar erkennbar waren.
 
Die Erkenntnis 1 war gewollt. Sebastian wählte bewusst zwei Achsen, denn es ging im Grunde genommen auch um zwei Opfer. Erkenntnis 3 war auch gewollt: Wenn es eng werden würde, war ein Psychopath relativ nahe bei der Unzurechnungsfähigkeit. Sorgen bereitete ihm eher die Erkenntnis 2. Nach der nächsten Horror-Runde käme man eventuell darauf, dass sich auf beiden Achsen ein Name ergeben könnte.
 
Bei Hartmann hatte er vorgesorgt, das war nicht weiter schlimm; aber bei Kasser könnte es heikel werden. Wenn jemand auf seinen Namen kommen könnte, wäre er schon halb identifiziert oder zumindest im weiteren Kreis der Verdächtigten. Sebastian war nicht unter Zeitdruck, zumindest jetzt noch nicht. Er liess sich Zeit! Tagelang! Und wie meistens brachte wieder einmal das Dunkel, brachte ein nächtlicher Gedankenblitz die Lösung.
 
Sebastian entschied sich am Folgemorgen, den Namen Kasser aus seinen schriftlichen Mordwarnungen zu streichen. Statt dessen wollte er künftig auf den Namen von Kassers Geheimfreundin, von Eliane Mader setzen; d.h. genauer ausgedrückt, dass die Absenderbuchstaben seiner Botschaften zusammengesetzt nicht den Namen Kasser ergeben sollten wie bisher geplant, sondern neu Mader.
 
Ein genialer Geistesblitz, wie er meinte, denn damit band er Ideen-Ede elegant zurück; denn dessen Liaison war in der Öffentlichkeit nicht bekannt und durfte auch nie bekannt werden. Das Mordopfer hiess ab diesem Morgen für Sebastian nur noch Mader und so schlecht war der neue Name nicht: Kassers alias Maders Haare waren effektiv äusserst pomadig und sein Charakter innerlich vermodert und degoutant wie eine dahinsiechende Made im Mehl.
 
Kurz zusammengefasst: Im Grunde genommen war Kasser eine Mensch gewordene Made, die sich sanft kriechend einnistet und überall ihr zerstörerisches, kleptomanisches Unwesen treibt.
 
Zudem konnte er die bisher verwendeten Absenderbuchstaben auch für den neuen „Mordadressaten“ verwenden.
 
„Adieu Kasser! Willkommen Mader, dnB, du nuttiger Birnenwichser. Du wirst meine Warnung bald checken und elendiglich darunter leiden! Dein Waldemord.“
 
 

Schochs erste Grenzerfahrungen
 
Schoch, war zwar äusserst vif, aber in diesem Fall kam er einfach nicht weiter. Der Untersuchungsrichter suchte und suchte und untersuchte unten und oben, hinten und vorne. Er las jede Polizeiakte, vor allem jetzt die beiden neuesten aus Fahrenbach und aus Beyonne-sous-Blaire. Er analysierte praktisch jeden Satz, traf Annahmen und stellte Theorien an. Mass Landkarten aus, listete Typica des Tatorts auf, rätselte mit den Absenderbuchstaben. Aber zu seinem grossen Frust trat er stets an Ort. Waldemord war nirgends und überall, er blieb im unsichtbaren Dunkel versteckt bis er unversehens unerkannt und ungesehen wieder auftauchte, ein mörderisches Szenario orchestrierte, ehe er wieder im schwarzen Loch der anonymen Bevölkerung untertauchte. Er wurde noch nie gesehen, hatte also kein Gesicht, keine Statur, keine Kleidung, keinen Akzent, nicht mal eine Sprache. Er war ein lupenreines, bis jetzt perfektes Phantom.
 
Man suchte jemanden, den man nicht kannte. Schoch meinte, es sei wie Irgendetwas global angestrengt und intensiv zu suchen, aber kein Mensch wusste, wie das aussah oder – anders ausgedrückt – wonach man effektiv Ausschau halten musste. Nach jedem Ereignis wurde der öffentliche Druck grösser. Die kantonalen Polizeikorps – vor allem jene im Tatbereich – wurden mit Hinweisen überschüttet. Aber bis jetzt war trotz immenser Bemühungen noch nichts Interessantes oder Verdächtiges herausgekommen. Die Ohnmächtigkeit der Behörden war offensichtlich; die Unfähigkeit der Polizei bestätigte sich scheinbar immer wieder.
 
Die von Schoch einberufene Runde mit Pelletier, Steinegger, Duval, Willisegger und neu Laffer aus dem Aargau und Vuillemin aus dem Kanton Neuenburg brachte wenig bis gar nichts. Das Treffen verkam für alle Beteiligten zu einer Update-Veranstaltung, mehr nicht. Vuillemin informierte aus erster Hand, was er und seine Kollegen vor der Cabane des Sorcières angetroffen hatten. Er zeigte knapp 50 Fotos und sprach gleichzeitig vom beinahe untauglichen Versuch, Spuren zu sichern. DNA-Proben wurden im Gegensatz zu Schochs früherer Forderung an die Kantone leider keine sichergestellt. Der Fokus von Vuillemins Ausführungen betraf Joseph und sein Umfeld, seine wenigen Kolleginnen und seine vielen Kumpanen. Er versuchte Josephs Kundschaft zu charakterisieren und seine doch etwas sturen Gewohnheiten offenzulegen. Aber zu einem grossen Aha-Effekt kam niemand. Laffer blieb äusserst blass. Er bewegte sich in seinen Aussagen auf dem Niveau der Boulevardpresse. Das gemeinsame Facit nach dem Treffen war einzig die Erkenntnis, dass sie bei der kriminalistischen Auflösung des Falls immer noch tief im Halb- oder gar Dreivierteldunkel steckten.
 
Schoch blieb nichts anderes übrig, als die alten Pfade wieder zu betreten: Information an sämtliche kantonalen Polizeidepartemente, gesamtschweizerische Radarkontrollen vom besagten Dienstag und Mittwoch, Quervergleich mit der parkierten Autos am Mont Chasse u.a.m.
 
Binswanger nahm den schriftlichen Bericht seines Protégé etwas missmutig entgegen. Er war sich plötzlich nicht mehr so sicher, ob er Schoch nicht doch etwas überschätzt hatte.
 

 
Agieren ist besser als reagieren
 
Kasser alias Mader suchte die Telefonnummer der lokalen Zeitungsredaktion. Seit Monaten war er in der Presse untergetaucht. An der Parteiversammlung ohne Applaus, nach der Gemeindeversammlung ein kümmerlich kurzer Presseartikel. Bei den Medienvertretern nicht mehr en vogue, nicht mehr in! War er medientechnisch ein ausgereiztes Auslaufmodell? Ideen-Ede wollte dies austesten, besonders da er ja noch einen tollen Pfeil im Köcher hatte. Nach der Sonderinfo von Hartmann hatte nun Kasser auch von seinem eigenen Gemeindeschreiber die Bestätigung erhalten, dass Hartmann geschäftsintern für einen Top-Job im Wallis berufen worden war und dass er wohl bald als Gemeindepräsident und Gemeinderat demissionieren und ins Wallis zügeln würde. Diese Information war zwar vertraulich, aber für Kasser bedeutete dies, dass man diese Neuigkeiten durchaus weitergeben durfte, aber eben nur entsprechend als vertraulich klassifiziert.
 
Am Telefon informierte Kasser seinen Gesprächspartner exklusiv über vor ein paar Tagen geplante Neuigkeiten im Kompetenzzentrum für das Alter, sprach vom beispiellosen Erfolgsmodell, das die Region erschaffen hätte und meinte im Klartext eigentlich sich selbst. Er regte an, dass die Presse das Thema wieder mal aufnehmen und damit auch einen sanften Input geben könnte, dass die einzig aussenstehende Gemeinde in der Region vielleicht doch noch dem Zweckverband beitreten könnte.
 
Im Übrigen habe er auch eine neue Idee, zu der er nun noch ein paar Verbündete suche. Wenn ihn dies interessiere, komme er gerne mal bei ihm vorbei. Die Beiden verabredeten sich auf den Folgetag um 10.00 Uhr auf der Redaktion. Kasser war sich in diesem Moment nicht bewusst, dass er schon wieder im Begriff war, eine Idee zu klauen. Er war sich jedoch sicher, dass er soeben auf die Zielgerade eingebogen war.
 
Dass ihn Hartmann pressemässig noch einholte, war ziemlich unwahrscheinlich. Und wenn schon, dann gäbe es in der öffentlichen Wahrnehmung höchstens ein totes Rennen. Er würde der geistige Vater und Schöpfer der ersten städtischen Grossgemeinden-Agglomeration im Grünen werden. Das war ein neuer, toller Erfolg, auf den er sich freute und auf den er wirklich stolz sein durfte.
 

 
Sebastians oeko-psychiatrische Behandlung
 
Der Beitrag erschien zwei Tage später. Sebastian war der süss-faulige Presseartikel sauer aufgestossen. Diese widerliche Art, sich selbst zu inszenieren; diese Lüsternheit, sich selbst darzustellen, nervte jede einzelne Zelle seines Denkvermögens. Das Ganze zermürbte ihn so, dass sein Magen streikte und er wieder einmal einen unbändigen Brechreiz verspürte und sich schliesslich übergeben musste. Sebastian merkte intuitiv, dass er aktiv werden musste.
 
Er litt nicht nur psychisch, sondern seit geraumer Zeit zunehmend auch physisch. Eine konventionelle psychiatrische Behandlung kam für ihn nicht in Frage. Er wollte sich nicht helfen lassen und zudem gingen seine innersten Gedanken niemanden etwas an. Sein Dialog mit Gott, dem Einzigen, dem er blindlings vertraute, war derzeit etwas gestört. Sie waren nicht auf der gleichen Frequenz und fanden deshalb keinen vernünftigen Dialog.
 
Blieb nur noch die Natur oder anders formuliert: eine oeko-psychiatrische Behandlung. So machte sich denn Sebastian zwar mit leerem Magen, aber voller Groll und emotional durchgeladen auf zu seiner weisen Knorz-Eiche. Diese empfing ihn etwas schlaff und sichtlich älter geworden. Ihre Begrünung liess der Jahreszeit entsprechend immer noch zu wünschen übrig; die Blätter wanden sich nur mühsam aus den Knospen. Sebastian interpretierte das als eher garstigen Empfang.
 
Vielleicht lag es aber auch daran, dass er zum ersten Mal in seinem Leben nicht allein auf dem Deppenplatz war. Die Vertrautheit mit der Knorz-Eiche wurde durch einen altbekannten Parteikollegen gestört. Nicht dass ihm dieser gänzlich unsympathisch gewesen wäre, aber 1. redete er zuviel, was gerade jetzt störend war und 2. hatte er die Angewohnheit, bei einem Gespräch immer die körperliche Nähe zu suchen und einem mit dem Zeigfinger stets anzugrapschen oder noch präziser formuliert irgendwo am Körper anzupieksen.
Sebastian hasste das seit seiner Kindheit, weil seine Mutter ihren Belehrungen stets am Körper mit spitzen Fingernägeln Nachhaltung zu verschaffen versuchte. Sebastian erkannte rasch, dass unter diesen Vorzeichen eine meditative Session nicht möglich war und er heute den Dialog mit der Knorz-Eiche nicht finden würde. Beide schwiegen, er und der alte erfahrene Baum.
 
Wer unermüdlich redete und plapperte war nur der ungebetene Gast. Als ihm das Ganze zu bunt wurde, schaltete Sebastian seine Ohren auf Durchzug. Nach einem Gefälligkeitsbier mit seinem Pseudo-Kollegen – übrigens der, der ihn aus der Schusslinie nehmen wollte -, verabschiedete sich Sebastian. Er glaubte von ein paar Knospen noch ein heimliches, verschwörerisches Augenzwinkern wahrgenommen zu haben, sagte innerlich adieu, winkte in Richtung der Knorz-Eiche und machte sich auf den Weg zu seinem roten Mini.
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Der Bruch zwischen den Alphatieren
 
Hartmann hatte eben das Demissionsschreiben an den Gemeinderat unterschrieben und das Rücktrittsdatum noch eingesetzt, als seine Frau ihm wortlos den Regionalteil der Wochenzeitung zuschob. Hartmann sah die Überschrift und das Bild von Kasser und wusste gleich, dass er ausgetrickst und nach Strich und Faden verarscht wurde. 
 
Im Obertitel und in fetter Schrift las er: Der regionale Think Tank und im Untertitel: Visionär oder Schaffer? Oder gar beides?
 
Der Artikel war eine wahre Ode an Kasser. Das von ihm kreierte und weiter entwickelte Erfolgsmodell in der Altersversorgung, die stetigen Anpassungen an die neuesten Entwicklungen und Trends, die nächsten Investitionen wie Rollstuhlrampen und Erlebnisgarten im Innenbereich als Treffpunkt für Jung und Alt, für Verwirrte, Behinderte und für Nichtbehinderte (…und wahrscheinlich solche, dachte Hartmann, die es noch nicht sind). All dies gab der Ideen-Ede zum Besten.
 
Auf die Frage des Journalisten, was seine weiteren Pläne seien, liess er sich entlocken, dass er gegenwärtig an einem Fusionsprojekt zwischen den Gemeinden Maisingen und Heigriswil arbeite. Es sei jedoch noch zu früh, um in dieser Frage in die Details zu gehen. Auf die erstaunte Frage des Schreibenden, der den jahrelangen Grundsatzkampf von Kasser und Hartmann für die Gemeindeautonomie bestens kannte, ob er richtig gehört habe und warum plötzlich diese Kehrtwendung, meinte der Visionär:
 
„Mit dem Alter wird man weiser. Schon Adenauer hatte einst gesagt: Was interessiert mich mein Geschwafel von gestern? Man bekommt mehr Distanz zu den alltäglichen Dingen und kann die Veränderungen in der Welt viel klarer erkennen. Zudem kann man ja auch im Rentenalter noch klüger werden.“
 
Der ganze Artikel, der inklusive Foto beinahe ¾ Seiten umfasste, las sich wie ein Liebesbrief eines Journalisten und eingefleischten Fans, der seinen Star masslos überbewertete. In Tat und Wahrheit war es jedoch eher ein Dankeschön an den jahrelangen Einflüsterer, welcher der Presse viele Intima aus der regionalen Politküche preisgab.
 
Hartmann war tief enttäuscht. Seine Idee wurde ohne sein Wissen adoptiert und fremd etikettiert. Aber - und das schwor er sich - das würde er sich nicht bieten lassen so sicher, dass zweimal zwei vier ist. Im Hintergrund lächelte seine Frau verschmitzt. Sie wusste, dass sie Kasser seit Jahren richtig eingeschätzt hatte, verlor aber nach den bisherigen langen und oft sinnlosen Diskussionen kein Wort mehr darüber.



Strategiewechsel - ein Gebot der Stunde
 
Auch Sebastian versuchte gegen Abend den Artikel ein zweites Mal zu lesen. Obwohl er ein vielgeübter und alterfahrener Verdrängungskünstler war, las er ihn diesmal aufmerksam bis zum bitteren Ende durch. Es war tief in ihm drin, dass er sich nach jedem Abschnitt fragte, was das soeben Gelesene für ihn bedeutete. Er wusste intuitiv, dass der Namenswechsel von Kasser auf Mader richtig war und es nun darum ging, den Druck möglichst schnell und massiv zu erhöhen.
 
Aus Stammtischgesprächen am Nachmittag glaubte er auch heraus gehört zu haben, dass das ewig gleiche Tatortmuster, das er jeweils hinterliess, vielen langsam zu gleichförmig und zunehmend zu stereotyp erschien. Änderungen waren angesagt, ein Strategiewechsel drängte sich auf. Sebastian überlegte angestrengt, wie er etwas mehr Pepp in die ganze Angelegenheit bringen konnte mit dem unveränderten Ziel, alle in Angst und Schrecken zu versetzen, vor allem aber Kasser alias Mader und  Hartmann.
 
Von den ursprünglich geplanten Mordmotiven wollte er nicht abrücken. Offen blieben noch ein Sturz von einem Felsen, die Erhängung am Strick, die Verbrennung auf dem Scheiterhaufen und ein Meuchelmord aus dem Hinterhalt. Dabei blieb er. Was er ändern konnte, waren seine Drohformen auf Papier. Was er ändern konnte, waren die bisher in etwa immer gleichen Abstände von Tatort zu Tatort, sei  es auf der Achse West oder der Achse Ost. Und was vor allem auch wirklich machbar war, war auf einer Achse etwas Gas zu geben mit dem Ziel, den psychischen Druck nachhaltig zu erhöhen. Dass ihm im Moment der schleimige Kasser wesentlich mehr auf den Geist ging als der karrieresüchtige Hartmann war nach der Lektüre des Pressartikels folgerichtig und seiner Meinung nach auch logisch und konsequent.
 
So kam es, dass er sich für die nächste Untat im Gegensatz zur bisherigen Praxis für die Crête de l’Enfer, also für ein erneutes Ereignis auf der welschen Achse entschied.
 
Er holte sich noch am gleichen Abend auf dem Friedhof in der Abfalltonne eine alte Kranzschleife mit der Inschrift  „In tiefer Anteilnahme – die Union“ und transportierte sie wie alle bisherigen „Mord“-Requisiten in sein Ferienhaus, das sich keine 20 Kilometer entfernt befand. Da er und seine Familie die Retraite in den Wintermonaten nicht bewohnten und im Frühling, Sommer und Herbst relativ selten, hatte er sich in den letzten Monaten einen unbeachteten und unbewachten mobilen Werkplatz einrichten können, der erstens unverdächtig und zweitens nach jedem Event völlig unberührt und sauber war.
 
Sebastian fühlte sich auf der sicheren Seite, besonders da er im Keller ein Versteck kannte; ein Geheimfach, das seine Familie noch nicht entdeckt hatte. Er entfernte fein säuberlich das einzige „m“ auf der Kranzschleife und ersetzte es durch ein „M“. Das kleine „m“ zerschnitt er in viele kleine Stücke und entsorgte die Schnipsel in einem öffentlichen Abfallkübel im Nachbardorf.
 

 
Von der Krete in die Tiefe
 
Es passierte wiederum im Kanton Neuenburg. Die Crête de l’Enfer war gesamtschweizerisch bekannt. Sogar Naturfreunde wunderten sich, dass die pittoreske, wunderschön abgelegene, aber gleichzeitig auch dämonisch anmutende Landschaft noch nie als Drehort für einen James Bond-Film verwendet wurde. Eine naturnahe, schollenverbundene Bergwirtschaft mit geräucherten Spezialitäten, mit einem tollen Fondue-Angebot im Freien auf Holzbänken und Baumstämmen mitten auf einer saftigen Alm mit atemberaubender Weitsicht; auf einem Plateau gelegen, das durch ein hufeisenförmiges, kilometerlanges, gigantisches Felsenmassiv abgeschlossen wurde. Der Krete entlang führte ein aufwühlend dramatischer, wenn nicht sogar krimineller Fussweg, der nur einen knappen Meter von der zirka 200 m abfallenden Felswand entfernt war. Der letzte Mord geschah hier im Jahre 1770, als hier die beiden letzten Bären in der Schweiz erschossen wurden. An den Felswänden leben heute nur noch ein paar renitente Steinböcke und einige wenige seit Generationen mit der Felswand verbundenen Gämse.
 
Und hier passierte es! Dass der Fall ausgerechnet Kommissar Marmotte, dem „Murmeltier“, zugewiesen wurde, entbehrt nicht einer gewissen Sinnhaftigkeit. Er war etwas scheu und ging der Sache gern auf den Grund. Er hatte kurze Haare, sah putzig aus und immer wenn er nachdachte, hatte man das Gefühl, als stecke er seinen rechten Zeigfinger in das Maul. Als er auf der Crête de l’Enfer eintraf, sah er schon von weitem eine kleinere Menschansammlung auf der Höhe des Kretenwegs. Er stampfte mit seinem Polizistentross gegen den Tatort und hatte gleich ein mulmiges Gefühl. Was er antraf, enttäuschte ihn auf den ersten Blick ein wenig. Ein alter, etwas verwelkter grüner Kranz; darauf eine weisse Schleife mit folgender goldenfarbiger Inschrift:
 
„ In tiefer AnteilnahMe – die Union!“
 
Marmotte liess die Zuschauer zurücktreten und das nähere Gelände provisorisch absperren. Dann wagte er den Blick über die Krete und sah zirka 160 m unter sich eine kleine, fast unscheinbare rote Rinne, die über die Felsen und das Gestein geflossen war und weitere zirka 20 m tiefer ein vom tiefen Fall zerschmettertes Skelett.
 
Marmotte setzte sich auf die Steinmauer, die den Kretenweg von der Bergwiese abtrennte, verschnaufte etwas und dachte, während die Spezialisten die Spuren sicherten, angestrengt nach. Wie war das noch? Irgendetwas liess ihn daran zweifeln, dass das die Handschrift des bisherigen „Täters“, die Handschrift des Phantoms war. Er spürte Widersprüche und machte sich geistig auf die Suche. Was ihm zugute kam, war die Tatsache, dass er die bisherigen Tatdossiers sehr gut studiert und selbst in der Freizeit das Täterprofil und die Stereotypica des Handlungsablaufs studiert hatte. Die Richtung, in der sich die Schauplätze bewegten, stimmte nach wie vor.
 
Ausgehend vom Etang de la Joie, über den Mont Chasse und Beyonne-sous-Blaire war man nun auf der Crête de l’Enfer angelangt. Die Abstände waren in etwa gleich und die Richtung tendierte weiter in die Westschweiz in die Grossregion Yverdon-les-Bains, allenfalls Ste. Croix. Die Mordandrohung war erneut eine andere: ein willentlicher und vorsätzlicher fremd initiierter Sturz von einem Fels. Also auch in dieser Beziehung kein Paradigma-Wechsel.
 
 Was eindeutig anders war, waren zwei Feststellungen: 1. es gab keine Botschaft, höchstens eine Art Nachruf und 2. gab es keinen Absender und, was bei Psycho-Waldemord, dem Perfektionisten, neu war: es fehlte auf der Kranzschleife ein Buchstabe. Ob dies von Bedeutung war? Grün war zwar die Schleife, aber die Inschrift war golden. Wenn man eine Komplementärfarbe suchte, dann war es höchstens das Blut, das über die Felsen geflossen war.
 
Rot waren nur die wenigen Blutspuren, sonst nichts. Und was ihn besonders irritierte, war die Tatsache, dass der alternierende Modus zwischen der Romandie und der Innerschweiz zum ersten Mal durchbrochen wurde. Zweimal hintereinander der Kanton Jura, dann zweimal der Kanton Neuenburg. War das im Vergleich zur Achse Mittelland stimmig? Oder war ein anderer „Täter“, eventuell ein Nachäffer, im Spiel, der sich wichtig machen wollte. Oder war Waldemord eventuell gar nicht so stur in seinem kriminellen Denkschema. Fragen über Fragen!
 
Marmotte machte noch ein paar Hobby-Aufnahmen mit der eigenen Kamera, so wie er es immer tat. Es war seine Macke, die Zuschauer zu fotografieren und vermeintlich unwesentliche Details, die er im Momentum wahrnahm, festzuhalten. Er beschloss kurz darauf, ins Tal zu gehen und den Blutfleck und das zerschmetterte Skelett von unten her zu suchen und genauer zu betrachten.
 
Als Begleitung nahm er sich die sportlichsten Polizisten und Kriminalisten. Er wollte den Jungen nicht nur in seinem Métier, sondern auch im Bergsteigen eine Lektion erteilen.
 

 
Hartmann’s Gegenschlag

 
Hartmann beschloss, nicht mit einem Presseinterview oder einem Communiqué zurückzuschlagen, sondern gleich mehrere Pressevertreter gluschtig zu machen. Er wählte eine Art indirekte Kommunikation. Er berief wie immer seinen Gemeinderat ein und traktandierte als abschliessende Geschäfte seinen Rücktritt als Gemeindepräsident und Gemeinderat sowie die in der Presse aufgetauchten Fusionsideen mit der Gemeinde Heigriswil. Das hatte den Vorteil, dass sicherlich mehrere Medienvertreter anwesend waren und er im Frage- und Antwortspiel vieles sagen konnte, was in einem Interview eventuell gar nicht zur Sprache kommen würde. Er scheute sich auch nicht eine halbtödliche Replik auf Kassers selbstinszenierte, seinem besten Kollegen im Gemeinderat ein paar Fragen zu stecken, sozusagen als Steilvorlage für eine Eigenlobhymne. Und seine Taktik ging auf!
 
Für einmal seit langem tagte der Gemeinderat wieder mal vollzählig. Hartmann kam erst knapp vor Sitzungsbeginn in das Versammlungslokal. Er hoffte damit Fragen ausweichen zu können, die zur Unzeit, d.h. vor Sitzungsbeginn gestellt wurden. Die ersten drei Traktanden gingen schnell über die Bühne. Das Protokoll der letzten Sitzung wurde ohne Wortbegehren genehmigt. Der Beschaffungskredit für fünf zusätzliche Laptops in der Schule wurde diskussionslos genehmigt und die neuen Perimeterbeiträge wurden nur kurz vom Vertreter der kommunalen Hochfinanz bekämpft, der aber sehr bald einsehen musste, dass er mit seiner Argumentation allein auf weiter Flur stand.
 
Dann war der Weg frei für Hartmann. Es war sein grosser Auftritt! Er verteilte jedem Gemeinderat, dem Gemeindeschreiber und den anwesenden Pressevertretern eine Kopie seines Demissionsschreibens per Ende Sommer des laufenden Jahres und verlas es anschliessend nach aussen hin ziemlich emotionslos, nach innen jedoch äusserst genussvoll. Da er es beinahe auswendig rezitieren konnte, war er auch in der Lage, sein Umfeld etwas beobachten zu können.
 
Besonders beim Passus, bei dem es darum ging, dass er als CEO des Tochterkonzerns im Wallis von der Konzernleitung berufen wurde, konnte er sein Triumphgefühl trotz eines künstliches Räusperns oder gerade wegen des künstlichen Räusperns nicht verbergen. Seine Ankündigung, dass er in die Westschweiz zügeln werde, sobald er ein schönes Anwesen am See gefunden habe, war folgerichtig und verständlich.
 
Sein Auftritt war souverän. Seine Selbstsicherheit spürte jedermann beinahe körperlich; sein dunkler Einreiher und die violette Krawatte verliehen dem Ganzen einen würdigen Rahmen. Auf die Frage eines Journalisten, ob ihm der Abschied aus seinem Maisingen nicht schwer falle, gab er sich bescheiden.
 
„Etwas schon!“ meinte er, er gehe jedoch auch im Wissen, etwas für die Öffentlichkeit getan zu haben. Und obschon er in Einzelfällen vielleicht ein paar kleinere Fehlentscheide zu verantworten habe, trete er ab mit einem gutem und reinem Gewissen, dem er auch mit einem äusserst selbstsicheren Lächeln Glaubwürdigkeit verlieh.
 
Nachdem die Anwesenden den ersten Coup langsam verdaut hatten, gab Hartmann’s Gemeinderatskumpel Hartmann die gewünschte Steilvorlage: Er brachte die jüngsten Fusionsgerüchte mit Heigriswil ins Spiel. Diese mussten nun seit ein paar Tagen aus einer ganz anderen Optik betrachtet werden. Jedermann wusste, dass in Maisingen weit und breit kein Papabile in Sicht war.
 
„Hatte Kasser vor ihnen von der Karriereberufung von Hartmann erfahren, und wessen Idee war denn der Fusionsgedanke mit Heigriswil, und welches sind für den Gemeindepräsidenten von Maisingen allfällige Beweggründe, die er nachvollziehen kann?“
 
Hartmann, der die Brisanz der gestellten Frage im Raum beinahe körperlich spürte, erachtete den Zeitpunkt als gekommen, die Fakten auf den Tisch zu legen und mit seinem Gegenüber schonungslos abzurechnen. Er verwies auf ein vertrauliches Gespräch vor zehn Tagen, als er Kasser über seine Fusionsidee ins Bild setzte und ihm ausführlich begründete, wieso das Ganze entgegen seinen früheren Überzeugungen Sinn mache. Er habe Kasser die seiner Meinung nach entscheidenden Vorteile aufgelistet; habe aufgedeckt, wo Synergien erzielt werden könnten und in welcher Grössenordnung sich die finanziellen Einsparungen für jede Gemeinde bewegen könnten. Über das konkrete Vorgehen hätten sie zwar nicht gesprochen, aber er sei schon sehr erstaunt gewesen, wie schnell das Ganze so schnell öffentlich geworden sei. Auf die Frage seines Kumpels, ob es wirklich seine Idee gewesen sei, antwortete Hartmann:
 
„Ich bin mich im Beruf gewohnt, vorauszudenken. Grosskonzerne geben Unsummen von Geld aus, um ihre Markstellung stets verbessern zu können. Das Gleiche gilt auch für die Kommunen. Die Politikver

drossenheit der Bürger wird immer grösser, neue Organisationsformen sind gefragt. Und mein bevorstehender Domizilwechsel hat mich animiert, auch die politische Situation in Maisingen neu zu überdenken. Die zugegeben etwas unkonventionelle Idee der ersten städtischen Grossgemeinden-Agglomeration im Grünen ist allein mein Kind, das ich als Dank an meine Region, deren Kind ich bin, gerne hinterlassen will!“
 
Im Saal wurde es still. Ein paar Anwesende nickten zustimmend, ein paar Andere schauten betroffen auf ihre Notizen und der Gemeindeschreiber wusste nicht mehr, was und wie er das Ganze protokollieren sollte.
 
Weitere Fragen wurden keine mehr gestellt und Hartmann schloss die Gemeinderatssitzung. Für den anschliessenden Apéro entschuldigte er sich mit dem Verweis, dass er noch an das Geburtstagsfest eines befreundeten Kollegen müsse. Anstandshalber stiess er noch mit den regionalen Pressevertreterinnen und Pressevertreter an, bevor er sich tief befriedigt und etwas selbstverliebt zurückzog. 


 
Die SRF nutzt die Gunst der Stunde
 
Von Blarer, der verantwortliche Produktionsleiter schaltete ungewöhnlich schnell. Die neueste Untat von Psycho-Waldemord eignete sich hervorragend für den Einsatz der neuesten Hightech Drohnen-Kamera, die vor nicht allzu langer Zeit von Berner Studenten entwickelt worden war. Als die Fakten gegen Mittag von der Neuenburger Polizei offiziell bestätigt wurden, beorderte er zwei Techniker und einen Kameramann sowie einen Satellitenwagen in das Tatgebiet rund um die Crête de l’Enfer. Er wusste, dass er einem totalen Hype-Clip auf der Spur war. Ein Szenario, wie gewünscht für Sex and Crime, dem Insiderimage der allabendlichen Infosendung von 10 vor 10.
 
Ein tödlicher Stoss über einen Felsabhang von geschätzten 200 Metern, blutverspritzte Felsen, ein zerschmettertes Skelett, das ergäbe Aufnahmen, wie sie die Welt noch selten gesehen hatte, die selbst den hartgesottensten Leichenschauer tief in der Seele erschüttern würde. Allein der kilometerlange Kretenweg unmittelbar neben dem Abhang liess den Fernsehzuschauer nur schon beim Gedanken an den angedachten Tatvorgang weiche, gummige Knie bekommen. Der Blick hinunter zum Tatort war grausiger als jede Horrorszene, die je bei einem James Bond-Film gezeigt wurde. Der am äussersten Rand des Kretenwegs gelegene Kranz mit seinem etwas havarierten Abschiedsgruss würde sich hervorragend in den Live-Uplink einbauen lassen. Solche Luftaufnahmen sind weltweit heiss begehrt, dass wusste von Blarer.
 
In den Satellitenwagen beorderte er neben dem Fahrer und dem bereits kommandierten Reporterteam noch Sandmeier. Dieser war für Live-Interviews zuständig, die die Stimmung vor Ort wiedergeben sollten.
 
Nach einem kümmerlichen Kurzbeitrag in der Tagesschau, den Sebastian mit Interesse verfolgte, wurde gegen Ende der Sendung ein ausführlicher Beitrag in der Sendung 10 vor 10 angekündigt. Was Sebastian gegen 10 Uhr abends sah, war abenteuerlich und übertraf alles bisher Gesehene. Die technischen Möglichkeiten der 8-propelligen Drohne wurden voll ausgenutzt. Imposante Felsaufnahmen, ein simulierter Sturz in die Tiefe, Nahaufnahmen von Blutspuren, -rinnen und –klecksen und zerschmetterte Skelettteile, die weit verstreut im Bergmassiv herum lagen. Die Kamera machte alles mit; dazwischen eingestreut, schockierte Kommentare von Zuschauern und Gaffern und erste Einschätzungen von Fachleuten. Sebastian wusste sogleich: Dies war der Schritt ins Internet, ins Facebook und in Twitter. Psycho-Waldemord würde YouTube-Star. Sebastian wusste, dass er auf der Weltbühne angekommen war.

 

Hartmann und Kasser in der Sackgasse
 
Das Highlight seiner Berufung für den Topjob im Wallis hielt nicht lange an. In der Firma begegneten ihm seine wenige Kolleginnen und Kollegen mit offenem Neid. Seine alten Gegner Bernegger, Kohler, Dupperet, Saladin, Meier-Bruderer, Stoffel, Waldmeier, Berger und wie sie alle hiessen, waren zwar stinksauer über seinen Karrieresprung, aber richtig froh darüber, dass sie das Hartmännchen schon bald los hatten. Auch in der Gemeinde waren die Meinungen geteilt. Die Einten fanden ihn arrogant und zu wenig volksnah, die Anderen schätzten seine Intelligenz und Kompetenz. Aber Hartmann blieb für die meisten Insider gleich wie in seiner Firma einfach nur ein ausgebuffter karrieresüchtiger Hardliner.
 
Er kam, wo er auch tätig wurde, nie richtig an. Er blieb der ewige Aussenseiter. Er wurde nicht geliebt und er – das musste er sich eingestehen – konnte eigentlich auch niemanden richtig gern haben, geschweige denn richtig lieben. Seine vermeintlichen Depressionsschübe waren eventuell auch nur eine Reaktion auf das Unverständnis mit dem sein privates, geschäftliches und politisches Umfeld auf ihn reagierte. Dass ihn das Ganze in einen negativen Strudel zog, war aus diesem Gesichtswinkel betrachtet beinah verständlich. Die Frage war nur, ob dies krankhaft oder einfach nur eine Frage der inhärenten Logik war. Tatsache ist, dass die meisten nur seine zynischen, dominanten und herrischen Züge wahrnahmen, nicht aber seine hoch empfindliche, sensible Art und seine periodisch absackenden, depressiven Verstimmungen.
 
Er war seit jeher eine umstrittene Persönlichkeit: Entweder man mochte ihn oder wie die Meisten, man mochte ihn nicht. Als er in der Westschweiz eine Villa am See suchte, schnauften nicht wenige auf; unterdessen auch Kasser. Die alte Freundschaft war an der Gemeindeversammlung von Maisingen zerbrochen. Kasser konnte nicht verstehen, wieso Hartmann einen solchen Egotrip veranstaltete, der ihm buchstäblich den Boden unter den Füssen wegzog. Hartmann hätte ihn ja kontaktieren können, hätte fragen können, wie der besagte Artikel zustande gekommen sei. Was er effektiv gesagt hatte und, was die Presse daraus gemacht habe.
 
Kasser war – und das merkte selbst er – politisch total weg vom Fenster. Er stand als Lügner da. Man unterschob ihm Machtgelüste auf das Präsidentenamt der Grossgemeinde, ordnete ihm den Charakterlumpen zu und spedierte ihn damit gleichzeitig auf die Liste der Unwählbaren. Er fühlte sich kalt gestellt, eiskalt sogar. Er war politisch erledigt und Gegner genoss seinen Triumph. Seine Retourkutsche hatte gegriffen; Hartmann war rehabilitiert und hatte seine Vision wieder annektiert.
 
 

Waldemord’s heisser Trip
 
In der folgenden Nacht hatte Sebastian einen heissen, geilen Traum. Er sah, wie Kasser kurz nach dem Aufprall auf dem Felsen der Crête de l’Enfer hinkend mit gebrochenem rechtem Bein und blutüberströmt vergeblich versuchte aufzustehen und dann nach einer kurzen Verschnaufpause auf  Dreien von Vieren zur nächsten Felsplatte krakselte.
 
Dort pflutschte er in eine bereit stehende Seifenblase ein, die sich sofort mystisch um ihm schloss. Diese begann wie auf ein unsichtbares Kommando hin in allen Farben zu strahlen. Kasser alias Mader berührte mit seinem unversehrten rechten Zeigfinger den blauen Himmelsknopf und zur grossen Verwunderung von Sebastian hob das Gefährt himmelwärts ab. Immer höher und höher, immer kleiner und kleiner.
 
Sebastian traute seinen Augen nicht; sein Magen spielte wieder einmal verrückt; er war adrenalinüberschüttet und voll auf dem Weg zur traumatischen Blasphemie, als kurz vor der Himmelpforte ein krähenartiger schwarzer Greifvogel die Seifenblase attackierte. Nach zwei bis drei Sekunden Gegenwehr fiel sie in sich zusammen und zerplatzte im grossen All. Ein Schwarm weisser Friedenstauben schaute aus nächster Distanz zu, griff aber nicht ein und liess dem Treiben seinen Lauf.
 
Kasser, der sich schon im Himmel wähnte, fielen beinahe die Augen aus dem Kopf; er streckte alle Vieren von sich, aber er flog unbarmherzig im freien Flug immer schneller wieder der Erde zu. Nach zirka 100 km verlor er die Balance. Es wirbelte ihn schmerzhaft um und gegen seine eigene Achse. Sein Blut floss nicht mehr; es klebte nur noch an den Gefässen, die fingerdick von seinem Körper abstanden. Kurz vor der Crête de l’Enfer hatte Kasser die Schallgeschwindigkeit erreicht. Sebastian hörte einen ohrenbetäubenden Knall und sah, wie sich das Felsmassiv höhlenartig öffnete und den menschlichen Körper von Kasser in sich aufsog.
 
Sebastian’s übersinnliche Wahrnehmung begleitete Kasser geistig in den Schlund. Es wurde immer heisser und immer heller. Und plötzlich wurde er sich gewahr, dass er Kasser nun loslassen musste. Er wollte Ideen-Ede den letzten Weg zur Hölle alleine gehen lassen. Das Ganze wurde ihm zu heiss.
 
Schweissgebadet wachte Sebastian auf. Seit Jahren hatte er kein solches Highlight mehr erträumt geschweige denn erlebt. Das Ganze stellte sogar seine legendären Sexträume in den Schatten, auch wenn diese mit den Jahren immer seltener und auch weniger explosiv wurden.
 
 
Sebastian ändert seinen Masterplan

 
Weitere zwei Monate gingen ins Land. In der Zwischenzeit hatte Hartmann ein Anwesen am unteren Ende des Genfersees gefunden. Gegen Anfang August hatte er seinen Wohnsitz ins Waadtland verlegt.
 
In Maisingen wurde er von der Bevölkerung in allen Ehren verabschiedet. Seine Fusionsidee mit Heigrishofen aber geriet ins Stocken. Seit der besagten Gemeinderatssitzung war das Ganze nur noch ein Thema für das Sommerloch der Presse. Für die politischen Meinungsbilder und die direkt Betroffenen verlor das Thema tagtäglich an Bedeutung.
 
Interessant und nachhaltiger blieb die Idee der ersten Grossgemeinden-Agglomaration im Grünen nur noch für die bekennenden Regio-Politiker aller Couleurs. Doch offenbar war die Zeit noch nicht reif dafür. Das öffentliche Strassenverkehrsnetz war noch nicht genügend ausgebaut, der Nationalstrassenausbau war seit längerer Zeit ins Stocken geraten, und der Schienenverkehr liess in seiner teilweisen Eingleisigkeit viele Wünsche offen.
 
Die erste Grossgemeinden-Agglomeration war zwar im Grünen angedacht, stand derzeit aber auch total im Schilf oder fussballerisch ausgedrückt: eindeutig im Offside.
 
Kasser, der einst von Hartmann angedachte Gemeindepräsident, hatte von der Presse die rote Karte kassiert und deshalb null Interesse, den Vorreiter dieser Idee zu spielen und ihr zum Durchbruch zu verhelfen.
 
Sebastian seinerseits war vor eine neue Situation gestellt. Er musste seine letzten zwei Drohszenarien auf der Ostachse umplanen. Der Umzug von Hartmann bedingte einen Richtungswechsel und zwei neue „Tatorte“, einerseits Richtung Emmental und anderseits Richtung Freiburgerland. Um seinen ursprünglichen Zeitplan nicht zu gefährden, entschloss sich Sebastian, etwas Neues zu wagen und den Event im Emmental vorzuproduzieren. Er hatte seine Wahl getroffen: Er wollte einen romantisch skurrilen Grillabend bei einer idyllisch am Waldrand gelegenen Jagdhütte inszenieren. „Waldemort am Leichenessen in Bramiswald!“  Was für eine tolle Schlagzeile dachte er sich, bevor er sich an die Detailplanung machte.
 
 
Hartmann kommt im Wallis gar nicht an

 
Hartmann hatte einen sehr frostigen Empfang. Sein Ruf war im Wallis angelangt, noch ehe er sich auf die Reise gemacht hatte. Der geschliffene, hagere, aristokratisch wirkende neue Chef hatte nichts, rein gar nichts von der Mentalität eines richtigen, deutsch sprechenden, knorrigen Bergwallisers. Hartmann und seine Mitarbeiter oder präziser ausgedrückt: seine Untertanen lebten in verschiedenen Welten. Er war nicht nur unbeliebt, er wurde schon bald richtig gehasst.
 
Schon die Tatsache, dass er seinen Wohnsitz im Waadtland nahm, wurde ihm sehr übel genommen. Als er dann nach seinen Antritt auch gleich alles umkrempeln wollte oder sich beim Mutterhaus nicht dagegen wehrte, dass er es musste, da hatte er es ausser bei ein paar ETH- Jungmanagern praktisch bei allen verscherzt.
 
Beim Mittagessen gesellte sich niemand zu ihm, ausser wenn er jemanden geschäftlich kommandierte. Die Einzigen, die zum ihm hielten, waren seine Frau und seine Kinder. Doch diese sah er selten genug. Geschäftliche Sitzungen, interne Gespräche, externe Kundenbesuche, Gedankenaustausche mit der Konzernleitung, Leadership-Seminare im In- und Ausland, Kadersitzungen kreuz und quer und dazu der Alltagskram: Konkurrenz studieren, Hochrechnungen machen, Prognosen erstellen, kommandieren, korrigieren, kontrollieren usw.; alles undankbare Aufgaben, die ihn in der öffentlichen Wahrnehmung zum Besserwisser und – man wundere sich nicht – auch im Wallis zum Karrierearschloch degradierten.
 
Der Präsident  der ArKo, der Arbeiterkommission, hatte ihn rasch durchschaut. Der Konzern hingegen behandelte ihn wie einen HiPo, einen High Potential. Hartmann war auch so, in der Seele und im Geist. Nach aussen extrem kundenfreundlich, angesehen und sympathisch, nach innen kälter als eine aus einem Eisblock gemeisselte Charaktersau. Ja, genau so und nur noch Punkt. Es gibt rein gar nichts mehr zu sagen. Nach Hartmann war damit nach ein paar Wochen etwas zeitverzögert auch sein zweifelhaftes Renommé im Wallis angekommen, nachhaltig und omnipräsent.
 
Schon nach wenigen Wochen zeigte Hartmann Wirkung. Er magerte sichtlich ab, wurde immer blasser und seine früher eher seltenen Wutfälle potenzierten sich Woche für Woche. Dass er die Widerstandshaltung seiner Belegschaft beinahe körperlich spürte, war seiner Gesundheit auch nicht zuträglich. Hartmann und sein Herz panzerten sich ein, liessen alles von sich abprallen und wurden unflexibel, stur und menschenfeindlich.
 


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Der Event im Bauernland
 
Sebastian hatte gründlich und seriös vorproduziert. Er hatte in seinem Ferienhaus altes und um 50% reduziertes Fleisch gegrillt bis es schwarz angesengt war. Circa 2 kg total. Etwa 300 gr ass er selbst, als es noch rosafarbig war. Den Rest schmiss er tags darauf in eine Metallkiste, die hermetisch abschliessbar war.
Zum angekohlten Fleisch warf er noch zwei helle Doppelbürli, ein paar Scheiben Roggenbrot, eine halbleere Tube Mayonnaise und ein halb volles Glas Senf. Nicht abgewischt, versteht sich, sondern barbarisch verschmiert, ungepflegt und ohne die geringste Spur einer kultivierten Essmanier. Zwischen das unappetitliche Fleisch murkste er zwei leere und eine angebrochene Halbliterflasche Rosé de Gamay 2011.
 
Am Schluss deckte er das Ganze mit zwei fettigen, von Grillasche gezeichneten und von Weinflecken verfärbten Papierservietten ab. An den rechten Kistenrand legte er ein Trauercouvert mit einer Danksagungskarte: 
„Hier die Resten des LeichenimBisses in der Waldhütte!.“
 
Darauf platzierte er fein säuberlich ein transparentes Plastikbriefchen mit einem grossen Büschel gräulich-ermatteter Haare. Er schloss die Kiste fachmännisch ab und klebte darauf ein Sichtcouvert mit einer computergefertigten Adresse an die Gemeindeverwaltung von Bramiswald. Sonst kein weiterer Briefinhalt, nichts! Gegen Mitternacht stellte er unter den wohlwollenden Schutz der Nacht die Kiste vor die Eingangstür der Gemeindeverwaltung.
 
Am Morgen um 4 Uhr hatte er noch die Grillstelle bei der Forsthütte in Brand gesetzt in der Hoffnung, man würde zeitig einen Augenschein am Ort des Geschehens nehmen. Dass er dabei eine puffartige Unordnung arrangierte, versteht sich von selbst. Ein
verflecktes Weinglas mit Weinrückständen, zwei dreckige Einwegteller, am Boden zertrampeltes Plastikbesteck, am Baumstrunk eine grauselige Kotzete und am Boden eine verdreckte, alte fusselige Wanderjacke.
 
Als die Gemeinde-Lehrtochter als Erste an ihrem Arbeitsplatz eintraf, machte sie sich keine Gedanken über die Metallkiste. Ihr Genuss war bei der morgendlichen Zigarette und ihre Sinne beim Vorabend und damit bei Sämi. Ob vor der Gemeindeverwaltung Eisenkisten rumstanden oder nicht, interessierte sie am Allerwenigsten.
 
Schon eher von Interesse war der Behälter für den Werkdienst; denn die Verpackungsart erinnerte eher an bestellte Ersatzteile für den gemeindeeigenen Rasenmäher. Dass Cortese den grausigen Fund machte, lag einzig und allein daran, dass er eine mechanische Grundausbildung hatte und man die Kiste seinem Ressort zuschob.
 
Als Giuliano, ein sonst robuster und standfester Erdenbürger, die Kiste öffnete, blieb ihm buchstäblich die Spucke weg, und seit langem fluchte er wieder mal ausgiebig in seiner Heimatsprache. Er lief durch den Hof, alarmierte seine Kollegen und den Werkhofchef, hastete zurück in die nahegelegene Gemeindeverwaltung, trommelte das Gemeindepersonal zusammen, fing den CEO, der wie gewohnt um acht Uhr auf den Glockenschlag der Kirchenuhr erschien, auf dem Weg in sein Büro ab und führte den Tross zu seiner Werkstatt.
Zum ersten Mal in den sechs Jahren seit Giuliano in der Gemeinde angestellt war, sah er den Gemeindeschreiber sprachlos und entgeistert.
 

 
Im beschaulichen Emmental rumort’s
 
Die Kunde des Leichenessens verbreitete sich im Lauffeuer Tal auf und Tal ab. Der CEO der Gemeinde konnte endlich seine Connections ausnutzen. Er informierte seinen Gemeindepräsidenten und arrangierte noch vor der Znünipause zwei Telefonkonferenzen: eine mit sämtlichen Gemeindeverwaltungen in der Amtei und danach eine zweite mit einigen Berufskolleginnen und -kollegen in der weiteren Umgebung. Die Empörung, dass man das knorrig gemütliche Emmental nun auch in die Kette der Schandtaten eingebunden hatte, missfiel allen, die davon Kenntnis bekamen, sehr.
 
Um neun Uhr war das Ganze schon ein Stammtischthema und spätestens am Mittagstisch war man informiert. Zwar nicht einheitlich, teilweise irrig, unlogisch und voller Widersprüche und meistens auch  total übertrieben.
 
Auch die Polizei blieb nicht untätig. Sie hatte relativ schnell den Tatort grossräumig abgesperrt und sich nicht gescheut, so quasi als Annäherungsdrohung ein Dutzend Polizeihunde einzusetzen. Um die Forsthütte hatte man zwar in einer ersten Sichtung nichts von Bedeutung gefunden, nicht mal Fussspuren oder Ähnliches, ausser einer Augenlinse, die neben einem der beiden Einwegteller auf dem Boden lag.
Die zahlreich angereisten Medienvertreter und Fotografen merkten relativ bald, dass der Wald keine spektakulären Bilder hergab. Sie legten ihr Interesse auf das Gemeindepersonal und die Metallkiste, die aber zwischenzeitlich bereits unterwegs war in das Institut für Rechtsmedizin an der Uni Basel. Die untersuchende Behörde hatte ein paar forensische Untersuchungen angeordnet, die aber der Presse im Detail nicht kommuniziert wurden.
 
Fleisch am Knochen lieferte eigentlich nur Giuliano Cortese. Nicht nur weil er Kronzeuge war, sondern auch wegen seines manchmal überbordenden Temperaments. Die Ansehnlichkeit seiner Schilderungen war enorm, vor allem, wenn man der italienischen Sprache etwas mächtig war.
 
Seine kernigen Wortwendungen eigneten sich sehr für die Boulevard-Presse und sein Entsetzen beim Anblick des Kisteninhalts konnte er mimisch äusserst glaubwürdig nachspielen.
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Zu den finalen Seiten
 ... oder die Läuterung der schizoiden Wahnvorstellungen
 
 

Binswanger verliert langsam die Geduld
 
Binswanger machte etwas, was er in seiner Karriere noch nie getan hatte. Er berief eine interkantonale Sitzung ein, ohne den direkt Verantwortlichen zu informieren. Dass dies gerade seinen Protégé Schoch betraf und das erst noch ohne äusseren politischen Druck auf seine Person, war doch sehr verwunderlich. Selbst die eingeladenen Kriminologen, die das jeweilige Dossier führten, wunderten sich, dass der verantwortliche Untersuchungsrichter übergangen wurde. Binswanger fand es an der Zeit, den Chef zu markieren; er wollte damit nach aussen nicht nur seine unbestrittenen Führungsqualitäten zementieren, sondern auch demonstrieren, dass die Kräfte nachhaltiger gebündelt werden mussten und dass er dem Ganzen mit all seiner Kraft und seiner Macht, seiner Erfahrung und seinem Wissen ein Ende setzen wollte.
 
Er lud neben Pelletier, Steinegger, Duval, Willisegger, Lafer, Vuillemin und Marmotte auch den neuen Berner Kommissar Rüdisühli und auf fakultativer Basis auch die Polizeikommandanten der involvierten Kantone ein. Tagungsort war das nobelste Schwyzer Gastrounternehmen, was die Bedeutung des Treffens noch etwas unterstreichen sollte. Ausser dem obersten Chef der Jurassier Polizei trafen alle rechtzeitig ein. 
 
Leider auch ein paar Presseleute. Woher diesen die Versammlungsadresse und allenfalls auch die Traktandenliste zugespielt wurden, war Binswanger schleierhaft. Es war ihm sofort klar, dass dieses Informationsleck nicht nur positiv war, sondern dass er bei einem allfälligen Misserfolg längerfristig auch in der öffentlichen Meinung in eine politische Schräglage kommen könnte.
 
Er dankte innerlich Gott dafür, dass er am Vortag Schoch doch noch gebeten hatte, ihn in der Sitzungsleitung zu unterstützen. Angesichts der neuen Ausgangslage beschloss er kurzfristig, Schoch in den Vordergrund zu schieben, ihn das Ganze machen zu lassen. Das hatte jetzt den klaren Vorteil, dass sich die Presse so eher auf Schoch als auf ihn einschiessen würde. So wendete er elegant, ohne es zuvor wirklich bedacht zu haben, den drohenden Druck auf seine Person ab. Und er bereute seine Entscheidung nun weniger denn je. 
 
Er beschränkte sich darauf, die Anwesenden aufs Herzlichste in der Innerschweiz zu begrüssen und begründete, wieso er diese aussergewöhnliche Einladung in dieser speziellen personellen Zusammensetzung erlassen hatte. Nach einem kurzen und brillianten Resumé erteilte er das Wort an Schoch.
 
Und was dieser bot, war schlichtweg sensationell. Ohne ein Hilfsmittel, ohne Folien, ohne Power Point, ohne Beweismittel, nur mit Filzstiften ausgerüstet, legte er eine Show hin, die nicht nur äusserst informativ, sondern auch sehr geistreich war. Schoch spielte seine Eloquenz bis zum Letzten aus. Die anschliessende Diskussion zu den Fragestellungen, die er und zum Teil auch die Anwesenden einbrachten, führte er souverän. 
 
Am Schluss fasste er die wichtigsten Erkenntnisse zusammen. Waldemord hatte vermutlich seine eigene Logik hinter sich gelassen. Der brüske Richtungswechsel des Tatorts in das Emmental passte nicht in das bisherige Muster. Die Komplementärfarben spielten in Bramiswald offenbar keine Rolle. Die Gruseleffekte nahmen systematisch zu. Blut, Fleisch und Knochen wurden immer dominanter. Neu waren auch im Text integrierte Buchstaben im – wie sie vermuteten – obskuren Absendervermerk. Alt bekannt waren die immer wechselnden Tötungs- oder Mordformen und der jeweilige Drohkommentar.
 
Dem Tapir war aufgefallen, dass ein paar Utensilien deutschen Ursprungs waren oder genauer gesagt von der Kaufring-Kette stammten. Dem sollte man mehr Beachtung schenken, meinte er. Er lenkte die Aufmerksamkeit auch auf die Kontaktlinsen und interessierte sich besonders für deren kriminologische Untersuchung. Die Chance war gross, dass der Täter Kontaktlinsen- oder Brillenträger war, eventuell gar Grenzgänger oder zumindest Einkaufstourist aus einer an Deutschland angrenzenden Region.
 
Offensichtlich war Waldemord auch nachtaktiv. Was tagsüber geschah, war von langer Hand geplant. Offen blieb die Frage, ob man die Grenzwache einbeziehen sollte und wenn ja, mit welchen Auftrag bei welchen Grenzübergängen. Das Problem war, dass man immer noch keine Vorstellung der Person, noch seines Fortbewegungsmittels hatte. Das ganze Treffen dauerte gegen drei Stunden. Einen Durchbruch in der Fahndung hatten sie nicht wirklich. Aber die interkantonalen Gespräche waren kriminaltechnisch interessant und geistig befruchtend. Das unbestrittene Highlight war jedoch zweifelsohne der anschliessende Businesslunch mit 15-Gault-Millau Punkten. Die wenigen Journalisten, die ausgeharrt hatten, bekamen praktisch nichts zu hören:
 
„Kein Kommentar!“, „Pas de commentaire!“, war eine Standardantwort von allen Sitzungsteilnehmern ausser von Steinegger: „Wir tappen immer noch im Halbdunkel, aber das Morgendämmern kündigt sich an!“ 
 
 

Sebastian forciert die West-Achse
 
Sebastian hatte erfahren, dass Hartmann im Wallis sehr umstritten und zudem gesundheitlich stark angeschlagen war. Hartmann’s offensichtliche Herzprobleme erinnerten Sebastian an seine eigenen Beschwerden, die schlussendlich in vier Herzinfarkte ausmündeten, welche er glücklicherweise alle mehr oder weniger unbeschadet überstanden hatte. Dass Hartmann körperlich und seelisch litt, war klar. Dass er zudem bald in seine übliche Winterdepression fallen würde, war die grosse Chance für Sebastian, Hartmann menschlich und geschäftlich zu vernichten. Über Leib und Leben wollte er erst nach dem Jahreswechsel entscheiden!
 
Sebastian suchte sich einen geeigneten „Tatort“ im Freiburger Land. Er brauchte nicht lange zu studieren. Als sehr geeignet erachtete er eine Auberge in der Nähe von Fribourg. Etwas abgelegen, etwas schräg, ab er äusserst kreativ und sehr stilvoll. Schon der Name des Hotels wies darauf hin, dass man in alle Himmelrichtungen offen war und die Winde im Leben aus allen Richtungen pfeifen können. 
 
Im siebzehnten Jahrhundert war das Anwesen eine Sommerresidenz und Jagdsitz eines Nobelgeschlechts, später nach x-Besitzerwechseln wurde das Ganze mit einem bekannten Künstler in ein naturnahes Hotel-Restaurant in einem eigenwilligen, unkonventionellen, künstlerisch-kreativen Stil umfunktioniert. Die Küche war schlicht hervorragend, obwohl ein Koch den Übernamen, der „Kinderfresser“ trug – kein Mensch wusste wieso – und man dem Azubi den Zunamen „der verhexte Lehrling“ gab. Nicht nur intern, sondern hochoffiziell auch auf der Homepage, die übrigens genial daher kam.
 
Der Garten war so grün und erholsam, so voller Eigenprodukte, dass man das Gefühl hatte, man lebe in einer neuartigen, eigenen Biowelt. Auf dem Naturrasen lebte es sich an den Bistrotischen aus diversen Jahrzehnten, auf den Holz- und Eisenbänken, auf den Kinderschaukeln und Erwachsenenwippen wie in einem irdischen Paradies. Ruhig, wohlig, entspannend. An das frühere Jagdrevier erinnerte nichts mehr; im Gegenteil auch zwei Wildschweine wählten die Auberge als ihr Zuhause. Auf der angrenzen Weide graste öfters eine Herde schwarzgefleckter Freiburger Kühe.
 
Im Inneren der Villa ging es meistens schon ein bisschen peppiger zu. Acht individuell ausgestattete Zimmer verwöhnten mit ihrer Gastlichkeit und ihrem Witz die angereisten Gäste von nah und fern. Vom Mehrbettzimmer im Stil eines Lazaretts, über ein Komfortzimmer für Verliebte mit elektrisch zum Himmelbett fahrbarem Zmorgetisch, bis hin zum Chambre bleue im 1. Stock, das mit einer Badewanne auf Schienen ausgerüstet war, mit der man - ohne von einer Menschenseele gesehen zu werden – Tag und Nacht draussen auf dem Balkon baden oder einfach nur blütteln konnte.
 
Via einen in der Tür eingebauten Feldstecher konnte man vermeintlich in die Zimmer sehen. Aber dass aus dem Spannen nichts wurde, merkte man erst, wenn man begriff, dass stets ein fixes Bild des Intérieurs im Sichtfeld hinterlegt war.
 
Ursprünglich dachte Sebastian daran, in einem der Gästezimmer im Feldstecher eine Mordszene zu hinterlegen. Doch je länger und intensiver er darüber nachdachte, fand er den Preis für das Risiko, das er eingehen müsste, zu hoch. Blieben für ihn noch das Aussenschwimmbad mit dem überdimensionierten Manneken Pis, der die das Bassin betretenden Badegäste mit einem kräftigen Wasserstrahl in das Wasserbecken anpisste oder allenfalls noch ein etwas abgelegenes Naturschlafzimmer, das nur im Sommer in Betrieb genommen wurde. Es handelte sich um eine quadratische Grünfläche, zirka 6 x 6 m2, die von einem mindestens zwei Meter hohen Buchshag umgeben war und einen offenen Eingang hatte, der je nach Bedarf verstellt oder verbarrikadiert werden konnte. Nach zwei Nächten hatte sich Sebastian entschieden; sein Schlachtplan war skizziert.
 
 

Kasser taktiert 
 
Kasser – und das musste er sich selbst eingestehen – war im Grunde genommen froh, dass Hartmann abgehauen war. Das Projekt der ersten Grossgemeinden-Agglomeration im Grünen gewann langsam wieder an Fahrt, besonders auch dank den Fusionsgelüsten der beiden Basler Halbkantone. Das regionale Vordenkergremium hatte sich mit der Thematik ein erstes Mal auseinandergesetzt und eine Studiengruppe eingesetzt. Kasser, dessen Politkarriere plötzlich – wie ihm schien - wieder Fahrt aufnahm, wies ein Mitwirken in diesem Gremium taktisch geschickt zurück. Er meinte, er könnte damit zum Kronprinzen für das künftige Gemeindepräsidium mutieren, weil er mit diesem Verhalten nicht im Geringsten einem Mauscheleiverdacht ausgesetzt werden konnte. 
 
Er hatte immer noch glänzende Connections zum Vorstand oder noch träfer gesagt: Er hatte das Vordenkergremium voll im Griff, vor allem den Präsidenten und lange Zeit auch die Crettenans, die vor wenigen Monaten nach ihrer Wahl zur Gemeinderätin politisch im Vordenkergremium  Einsitz genommen hatte. Seit dem letzten Mal, als sie kurz aneinander gerieten, hatte er sie aber nicht mehr gesehen. Der Kontakt war wie eingeschlafen. Sie hatten keine gemeinsamen Sitzungen mehr. Er hatte keine Gelegenheit mehr gehabt, sie zu beeinflussen und sie konnte nichts mehr aus ihm herausholen. Das Duo Infernalis funktionierte  nicht mehr. Ihre politischen Energiequellen waren gegenseitig abgezapft. Deshalb beschloss Kasser eines schönen Abends sie anzurufen und sie über den Grund seiner Absage in die Studiengruppe „Regio Bâle green“ persönlich zu informieren. 
 
Es versteht sich von selbst, dass er die wahren Beweggründe verborgen hielt. Er sprach von Arbeitsüberlastung, da seine Gemeindeverwaltung personell unterdotiert war; und sprach davon, dass er gerade bei diesem Projekt nicht in den Verdacht geraten wolle, Eigeninteressen zu verfolgen. Er versäumte auch nicht anzuhängen, dass er die rufschädigenden Aussagen von Hartmann in der Presse immer noch nicht verdaut habe. Auf die Nachfrage der Crettenans, wie sich das Ganze denn wirklich abgespielt habe, entspann sich ein längeres Gespräch.
 
Am Schluss hatte es Kasser seiner Meinung nach geschafft. E war zumindest bei der Crettenans politisch rehabilitiert und das will was heissen. Wenn sie etwas Neues oder etwas Brisantes wusste – und dies erst noch aus erster Hand – liess sie nicht locker, bis es alle wussten und alle ihrer Meinung waren. Ideen-Ede kam je länger je besser wieder ins Geschäft.
 

 
Die heikle Meinungsverschiedenheit
 
Caroline und Sebastian hatten wieder mal eine Meinungsverschiedenheit, die nahe daran war, auszuarten. Sebastian stand nach zehn Stunden Schlaf herrlich ausgeruht auf und ging gutgelaunt zum Morgenessen. Auf seine Frage, wie Caroline denn geschlafen hatte, bekam er relativ zerknirscht die Antwort, sie fühle sich schlecht und sei die halbe Nacht über wach gewesen. Das war ein Alarmzeichen! Scheinbar stand der Hausfrieden wieder mal etwas schräg in der Landschaft. Nachfragen erübrigten sich. Caroline zog wieder mal einen Mieselaunentag ein. 
 
Sie habe schon seit längerer Zeit das Gefühl, dass Sebastian kein Interesse mehr an Gemeinsamkeiten zeige. Alle ihre Vorschläge lehne er kategorisch ab. In der Gegend lasse er sich nur wenig mit ihr blicken und seine Abwesenheiten im nahe gelegenen Ferienhaus seien nicht nachvollziehbar. 
 
Keine Arbeiten am Haus, keine Arbeiten im Garten. Nur Laptop, Fernsehen, Radio und ein paar wenige Bücher. Keine Einladung an sie. Abgeschottetes Eigenleben, Egotrip im Quadrat. Man müsse schon langsam darüber reden, wie man gemeinsam den dritten Lebensabschnitt ausgestalten  wolle.
 
Sebastian war schlagartig platt. Diese alte Leier nervte ihn gewaltig. Nahezu 40 Ehejahre hätten gezeigt, dass gemeinsames Einkaufen zum Desaster führte; dass ihn Hundespaziergänge im Wald grausam nervten, sobald ihnen ein Grosshund unangeleint entgegen sprang; dass er Kurztrips ins Ausland in seinem Alter nicht mehr brauchte, da er schon beinahe alles gesehen hatte und zudem sei er auch nicht mehr bereit, sein angeschlagenes Herz einer physischen und psychischen Belastungsprobe auszusetzen. Er fand, er brauche seine Freiheiten – Hunde an der Leine ja, Ehemänner entschieden nein – aber zu Hause oder eben im Ferienhaus fühle er sich doch eben am wohlsten. 
 
Caroline entgegnete, es seien immer die gleichen stereotypen Phrasen, ausweichende, nichtssagende Plattitüden und hakte konkret nach, was er denn im Ferienhaus so mache, dass sie stets und bewusst von seinem Leben ausgeschlossen wurde. Auf die Widerrede von Sebastian folgte ein weiblicher Aggressionsschub, der Sebastian schwarz-6 im Innersten traf. Sebastian stand auf, schletzte die Tür, wie es nur ein obersaurer Macho machen konnte und verreiste in die nahe Schlössli-Bar.
 
 

Was soll das eigentlich?

 
Die folgenden Herbsttage waren trüb, sehr trüb sogar. Widerliche Temperaturen, eine ausstrahlungsarme, depressive Sonne und am 1. Oktober sogar Schneeflocken, die beim Kontakt mit der Mutter Erde, ihre Schönheit aufgaben und matschige Tränen vergossen. Eben: Launiges, unberechenbares Spätherbstwetter! Heute noch  warme Temperaturen; ein paar Tage später schon bittere, eisige Kälte und Schnee. Auf nichts mehr war Verlass. Die Menschen wurden zickig und unberechenbar, mürrisch und unerträglich.
 
Sebastian hatte genug, bis oben hinaus. Nicht zum ersten Mal in seinem Leben konnte er Hartmann’s Depressionen total nachvollziehen. Er war verzweifelt, verbittert gegen alle und jeden. Selbst von seiner Familie fühlte er sich  im Stich gelassen.
 
„Was soll dieser ganze Scheiss hier auf Erden?“ dachte er sich. Und je mehr er nachdachte, desto fundamentaler, trüber und übler, erbärmlicher und stussiger wurden seine Gedanken. Sein Dasein kam ihm nutzlos und überflüssig vor. Er fühlte ausgehöhlt und innerlich leer. Beinahe eine Woche lang suhlte er sich in seinem Negativstrudel der Gefühle - mal mehr, mal weniger - bis er dank der einsetzenden Wetterbesserung und den steigenden Temperaturen mental langsam wieder „auf die Beine“ kam. Es begann damit, dass sein Verstand nach und nach wieder einsetzte und er das Thema rational anzugehen imstande war. Er machte sich ernsthaft Gedanken über den Sinn seines Lebens. Warum war er auf dieser Welt? Er hatte niemals eine Wahl gehabt, wurde einfach in diese hinein geboren. Man fragte ihn nicht. Die Geburt war sozusagen hoheitlich verordnet worden!
 
Von wem? Von Gott? Und wieso? War es ein Akt der Liebe? War dies eine Chance oder war es gar eine Strafe? War die Erde selbst etwa das viel zitierte Fegefeuer? Eine Tortur, durch die jeder Mensch zu gehen hatte. Quasi ein globales Dschungellager, wo man x grauenhafte, widerliche und ekelerregende Erfahrungskröten zu erdulden und zu verdauen hat, bis man so genug von diesem schrecklichen Dasein hat, dass man nur noch flüchten will. Weg von dieser riesengrossen Meute von Schmarotzern, die alle nach Wohlstand, Anerkennung und Ehre gieren; koste, was es wolle. 
 
Das war definitiv nicht seine Welt. Er war nicht auf dem Egotrip. Nie! Nur die anderen! Und trotzdem war er zum irdischen Dasein verdammt zu einem Leben in einer transzendenten, übersinnlichen, nicht begreifbaren Welt, verknurrt in ein Konzentrationslager auf Bewährung. 
 

 

Sebastian geht unnötige Risiken ein
 
Es war am Freitag, den 13. Oktober, als es geschah. In der Auberge aux 4-vents war die Nachsaison bereits am Ausklingen. Die Belegungszahlen waren am Sinken und draussen übernachtete niemand mehr. Zwar war das alte Schlafgestell noch im romantischen von Buchs um
hagten Zimmer, auch die beiden Garderobenständer, ein antiker aus Eisen und ein neueres Designerexemplar aus Holz. Vor dem Spitaldoppelbett – wo die das wohl her hatten? – war ein niedriger Bistrotisch mit einem thronartigen Holzsessel, rechts daneben unmittelbar vor der Buchswand ein Steinaufbau aus Granit, auf dem sich, allerdings nur mit einem dicken Kissen bequem sitzen liess. 
 
Dieses lauschige, spezielle Bühnenbild hatte Sebastian für den nächsten Akt seines Dramas gewählt. Er wusste nach seiner Rekognoszierung Ende September, dass das Restaurant jeweils am Mittwoch geschlossen hatte und die Gäste es im Allgemeinen mieden, ohne die 14-Stern-Bewirtung in der Auberge zu übernachten. In der Hotelagenda hatte er zudem in der Belegungskontrolle, die immer noch handgeschrieben geführt wurde, gesehen, dass Freitag, der 13. Oktober gestrichen war.
 
„On ferme toujours les vendredis, 13, depuis des siècles!“, lachte die Gerantin.
 
Ideale Voraussetzungen also. Sebastian nahm die Idee des Feldstechers an den Zimmertüren auf und konstruierte ein eigenes Exemplar, dem er eine Leichenhalle mit zwei Särgen und zwei darin liegenden Leichen – einem Mann und einer Frau – hinterlegte. Die Aufnahme hatte er aus dem Internet kopiert. Sie eignete sich hervorragend; denn es fehlte nichts, was furchterregend war. Ein grosses imposantes Kreuz an der Wand, Leichenhemde, zwei Trauersträusse in den gefalteten Händen der Toten und vor dem Bett ein Weihwasser-Gefäss mit einem Wedel, unmittelbar daneben eine stark rauchende Schale, höchstwahrscheinlich mit Weihrauch.
 
Das ganze verhiess höchstes Unheil; und das sollte es auch! Gegen Mitternacht auf den 14. Oktober waren im Quartier zwei Einzelschüsse zu hören. Aber das war’s dann schon. 
 
Als am nächsten Morgen der Gärtner seinen gewohnten Rundgang machte, erblickte er am verbarrikadierten Eingang einen Feldstecher, der ihm vollkommen neu war. Er guckte hinein und war unangenehm berührt. Er war sich von der Kreativabteilung seines Hauses etliches gewohnt. Aber diese Neukreation war seiner Meinung nach äusserst geschmacklos, oberskurril, wenn nicht sogar vulgär.
 
Als er aber dann in das Buchszimmer schaute, brachte er für einen Moment kein Bein mehr vor das andere. Auf dem hölzernen Thronsessel sah er eine rostige Sichel, die in eine Bibelstelle eingeklemmt war und auf dem roten Kissen des Steinsessels fand er einen Zettel mit der Inschrift: 
 
„Jesus, qui omnia  perficiet!. I.”
 
Vor dem Bett standen ein paar herumliegende gelbe Damenstiefel der Marke Buffalo und lose darüber geworfen war ein kreativ gestrickter violetter Modeschal von s.Oliver zu sehen. Der Gärtner wusste sogleich, dass Waldemord wieder zugeschlagen hatte.
  
 


Der Medienrummel um das Kulthotel
 

Jeder, der an den Medienwissenschaften auch nur ein bisschen geschnuppert hatte, wusste sogleich, dass der Vorfall in der Auberge des 4-vents für alle ein gefundenes Fressen war. Schöner und schräger konnte sich eine Kriminalkulisse nicht präsentieren. Und dass alles geheimnisvoll, unaufgeklärt und verborgen blieb, setzte dem Ganzen noch die Krone auf.

Blick sprach von Waldemord’s letzter Warnung; die Freiburger Nachrichten in Anlehnung an den Ort des Geschehens, dass Waldemord den Waldrand überschritten hatte; die Mittelland-Zeitung, dass Waldemord einmal mehr die Polizei veräppelte und der Bund fragte sich in seinem Kommentar, in welchem Jahrhundert eigentlich die Schweizer Kriminologie stecken geblieben sei. Das Schweizer Fernsehen visualisierte, wie Manneken Pis Waldemord – so nannten sie ihn - einem schwimmenden Urschweizer im Bassin auf die Badekappe im Ethno-Look von Michael Jordi pisste.
Die Botschaft, dass die ermittelnden Behörden immer noch total im Dunkeln tappten, wurde dadurch verstärkt, dass der vor Ort interviewte Kriminologe Kropf ungünstig und tapsig rüber kam. Die Chance, aus dem leerstehenden Herrschaftshotel ein Geisterhaus zu inszenieren, wurde voll wahrgenommen. Die Idylle des Buchszimmers wurde mit dem Tatverlauf so brutal zerstört, dass man sich so abgestossen fühlte, dass es direkt wieder interessant wurde.
 
Kurz: man wähnte sich in einem Sience-Fiction-Fil
m, der vor Ort gedreht wurde, irreal rüber kam und doch Realität war. Wiederum ging der 10 vor 10-Beitrag des Fernsehens rund um die Welt. Internationale Korrespondenten berichteten in ihre Länder; YouTube lud den Beitrag als Clip unter der Sparte „beliebt“ als No.4 hoch.
 
Für Sebastian war das eine Erfolgsstory sondergleichen. Alles seine Ideen, alles sein Werk! Es stimmte schon: Was lange währte, wurde endlich gut.
 
 

Hartmann verliert die Contenance
 
Die Jahreszeit hatte Hartmann wieder mal seine jährliche Depressionsphase verpasst. Das äusserte sich darin, dass er wieder mehr mit der 9-mm-Munition in seinem Büro spielte und sie sanft flattierte. Er putzte zu Hause wie immer im November seine Armeepistole, staubte sie ab, nahm sie auseinander, säuberte den Lauf mit den Drahtbürsten von nicht vorhandenem Rost, fettete das Ganze wieder ein, baute die Bestandteile wieder zusammen und staubte sie erneut ab.
Dazu sinnierte er über sein Leben, über seine Ehe, über seine Kinder, über die wenigen Freunde und vor allem über seine vielen Gegner und Feinde. Er meditierte oft stundenlang und je länger er nachdachte, umso schlimmer wurde seine seelische Verfassung. Es geriet in einen gigantischen psychischen Strudel, der ihn in die unterste Stufe seiner Seelentiefs abtrieb. Oft bildete er sich in seinem Wahn Dinge ein, die ein Aussenstehender schlicht nicht nachvollziehen konnte. Als Hartmann nach der jährlichen Pistolenreinigung den Sonntagsblick las, stachen ihm sogleich die Headlines ins Auge:
„Macht Waldemord ernst?“ und darunter etwas weniger gross und nur halbfett: „Das Phantom kündigt jetzt Taten an“. 
Als Hartmann den Artikel gelesen und überdacht hatte, wusste er Bescheid. Alles, wirklich alles, sprach dafür, dass Waldemord ihn im Visier hatte und niemand anderen. Der rätselhafte Richtungswechsel der Schauplätze und die Vorkommnisse in der Auberge des 4-vents wiesen ihm den Weg. Seine These, dass die letzten Buchstaben bei der jeweiligen Botschaft Aufschluss über eine Vorliebe des Täters geben könnten, erwies sich als falsch. Wie er die Buchstabenreihenfolge auch kombinierte, etwas Sinnvolles ergab sich nie.
 
Auf des Rätsels Lösung kam er erst, als er auf der Blick-Foto gelbe Stiefel der Marke Buffalo sah. Es waren genau die gleichen, die seine Frau vor wenigen Wochen in einem Modeladen erstanden hatte. Jetzt checkte er, was das Ganze sollte. Die fünf Buchstaben öffneten ihm die Augen. Waldemord hatte also keinen Decknamen und gab also nicht Aufschluss über den Ort oder die Art des Todes, sondern er gab Hinweise auf das das Opfer. Aber nicht offen, sondern raffiniert verschlüsselt.
 
Dass Hartmann recht hatte in seiner Annahme, sah er darin bestätigt, dass er selbst derzeit öfters einen langen, violetten Modeschal trug. Auch die fünf „Absender“-Buchstaben machten plötzlich Sinn, zumindest auf der Achse Mittelland.
 
„Raffinierter Hund!“, dachte er und machte sich Gedanken über seine schärfsten Rivalen und über seine langjährigen Intimfeinde. Wer war in der Lage, so lange, so penetrant, eine solch menschenverachtende, Tod androhende Kampagne durchzuziehen, ohne brauchbare Spuren zu hinterlassen?
 
Hartmann war verzweifelt und spürte wieder einmal ein heftiges Herzrasen und eine beklemmende Enge im Brustkorb. Eine Herzuntersuchung oder gar ein freiwilliger Eintritt in eine kardiologische oder gar psychiatrische Polyklinik schloss er aus geschäftlichen Gründen aus.
Er behielt alles für sich, wollte auch die Familie nicht belasten. Ein echter Mann, ein Klassemanager steht das durch, dachte er. Aber Hartmann verspürte Angst, tiefe Angst vor seinem noch unbekannten persönlichen Feind und vor seinem eigenen Leben.
 

 
Die Schlinge zieht sich zusammen
 
Dass bei einer Zeugeneinvernahme ein Anwohner der Auberge angab, gegen Mitternacht einen mittelgrossen, gut genährten, zirka 170–175 cm grossen Mann mit Rucksack im Quartier gesehen zu haben, bedeutete noch nichts; aber es war das erste Mal, dass das Phantom zumindest eine minimale Form annahm. Dass der Täter Linsen- oder Brillenträger war, meinte man zu wissen. Wahrscheinlich war auch die Herkunft: Grenzgänger oder Euro-Profiteur.
„Das Alter?“, „Wie will man das nachts um 01.00 Uhr feststellen? Dem Gang nach mehr als fünfzig; noch rüstig, aber ein wenig knackig und in der Fortbewegung etwas eckig und tschalpig.“, „Physiognomie?“. „Dunkel.“. „Kleidung?“ „Auch dunkel.“ „ Wie dunkel?“ „Grau bis dunkelgrau!“ „Wären Sie in der Lage, mit unseren Spezialisten ein Fahndungsphoto zu definieren?“. „Ich glaube nicht.“ „Schuhe?“ Wusste der Zeuge nicht. „Kleidung?“ Zu wenig Details! „Ich erinnere mich nicht. Grau oder ähnlich.!“ „Brillenträger?“ „Ja, da bin ich sicher!“
Unter diesen Voraussetzungen ein Konterfei zu simulieren  und zu publizieren, war reine Sisyphusarbeit. Trotzdem war der Feedback nicht schlecht. Langsam aber sicher nahm der Täter doch fassbare Formen an; noch verschwommen zwar, aber er war nun endlich auf dem polizeilichen Fahndungsradar angelangt.
 
Diesmal wurde nicht zu einer interkantonalen Konferenz geladen. Man stellte die Fragen ins polizeiinterne Internet. Was sind die neuesten Schlüsse, Vermutungen, Gedanken oder auch nur vage Vermutungen?
Steinegger vermerkte, dass Waldemord auf der Achse West neu gegen den Genfersee tendiere und dass die Komplementärfarbe wieder aufgetaucht sei und einen tieferen Sinn haben müsse: Von einem Extrem ins andere? Schillervögel auf der Abschussrampe? Gegensätze, die sich anziehen? Lebenssituationen oder Lebensrequisiten? Lebenseinstellungen? Farben als Wohlgefühl des politischen Zeitgeistes? Gelb politisch passé, violett politisch le future?
 
Violett als Nachfolgefarbe für braun, als Symbol für Weisheit, Reinheit und Konsequenz! Die Komplementärfarbe hat eine tiefere Bedeutung, da war er sich sicher; bloss welche? Pelletier, der Tapir, blieb seiner Linie treu: Grenzgänger oder Einkaufstourist aus der Schweiz, Brillen- und eventuell Kontaktlinsenträger und neu: in der Spätblüte der Jahre, wahrscheinlich vollschlank, eher unauffällig. Eventuell  doch Rucksacktourist! Er regte an, die fünf letzten Buchstaben der Unheilsbotschaften von einem Sprachwissenschafter zu analysieren.
 
Welche sinnvollen Wörter ergäben sich aus einer allfällig ergänzten Buchstabenfolge oder direkt aus den Einzelbuchstaben? Gibt es eine Institution oder eine Organisation, die einen Bezug zu den bisherigen Tatorten hat oder haben könnte? Er schlug des Weiteren vor, bei der Überprüfung der Radarkontrollen neu auch schwergewichtig das Gebiet zwischen der Nordwestschweiz und dem jeweiligen Tatort mit einzubeziehen.
 
Duval hieb in dieser Beziehung in die gleiche Kerbe. Er stellte die Theorie auf, dass das vorgesehene Opfer einen Wohnortwechsel vorgenommen haben könnte, ob temporär oder dauernd liess er offen.
 
Schoch fragte sich, ob es im Mont Chasse und in der Auberge bei Fribourg um die Zeit vor der Tat gemeinsame Gäste gegeben habe. Jeder involvierte Kriminologe las akribisch die Akten, aber keiner kam richtig weiter in seinen Erkenntnissen.
 
 

Die letzte Bergtour von Hartmann
 
Hartmann fühlte sich am Morgen voller Power. Er beschloss eine Wanderung zu machen und zwar in das Gebiet von Borchen. Ein romantischer, lauschiger Ort, steil ansteigende oder rapid abfallende Wege, je nachdem man in welche Richtung lief.
Er lief bergauf, langsam zwar, aber stetig. Als er den Anstieg in Angriff genommen hatte, fühlte er sich noch super. Nach zirka 1½ Stunden aber war er etwas matt und kurz vor der eingeplanten Znünipause spürte er ein undefinierbares Unwohlsein, das ihn tief verunsicherte.
Dem Rat seiner Frau folgend – wie immer in Krisensituationen – trank er zwei Becher kohlensäurefreies Mineralwasser und versuchte sich physisch und mental zu entspannen.
Es nützte nichts! So sehr er auch seine esoterische Ader aktivierte, die Schmerzen blieben. Auch ein Schluck Fendant kurz vor Mittag brachte keine Linderung. Trotzdem beschloss er, seinen eigenen Weg weiter zu beschreiten und die Wanderroute fortzusetzen. Das Chalet-à-Grobéty wartete auf ihn. Er hatte telefonisch reserviert. Er freute sich auf das duftende Gemüse-Fondue mit einem Petite Arvine des letztjährigen Jahrgangs und Angst wuchs beinahe mit jedem Schritt. Das Handy versagte seinen Dienst. Der Akku war leer.
 
 

Die letzte Ausgabe im alten Jahr
 
Ein hohes Tor, durch das ich stockend schreite – ein grosser Strom, auf dem ich haltlos gleite – wohin? Ich weiss es nicht… Der Raum erlischt. Zerronnen ist die Zeit.  Da blick ich, Herr, aus tiefster Dunkelheit empor zu Dir ans Licht!
Traurig nehmen wir Abschied von …
Sebastian las die nationale Presse nur sehr oberflächlich; die regionale hingegen sehr genau, wenn nicht sogar akribisch. Was ihm gleich auffiel war die vorerwähnte Todesanzeige, die ihn fast total aus seinem ohnehin instabilen Gleichgewicht brachte: Hartmann war gestorben!
Sebastian war perplex. Wieso wusste er von alle dem nichts? Wieso war das an ihm vorbeigegangen? Seine Ramadan-Tage hatten scheinbar nicht nur Gutes. Es bestätigte seine These, wonach man auswärts wesentlich mehr erfuhr, als als seriöser Eremit zu Hause. Er machte sich auf den Weg ins Dorf und durchstöberte sämtliche verfügbaren Zeitungen. Sie überschlugen sich beinahe von Todesanzeigen.
 
Der Mutter-Konzern sprach sein Beileid aus, seine aktuelle Firma kondolierte und drückte ihr tiefstes Bedauern aus. Der örtliche Service-Club bedauerte den Tod seines Mitglieds und die Elsie Minder-Stiftung hatte die traurige Pflicht, die Öffentlichkeit von Hinschied ihres Stiftungsrats zu informieren. Die Gemeinde Maisingen hatte wieder einmal den Redaktionsschluss verpasst und wie sich später herausstellte, erst in der Folgewoche von ihrem ehemaligen Gemeindepräsidenten Abschied genommen.
 
Sebastian war überwältigt von der Wertschätzung, die Hartmann entgegen gebracht wurde und von der Güte dieser Person, die er leider nie erfahren hatte. Aber noch sass sein Groll zu tief. Zu Hause dachte er darüber nach, wie er denn die Anzeige formuliert hätte:
 
Du hast ein Leben lang in der Politik gewühlt
nun hat es auch Dich hinweg gespült
Deine Traumkarriere ist zu Ende 
Dein Gemauschel nur noch Legende
Deine Verbündeten sind nicht mehr Lichter
Jetzt ist nur noch Gott Dein Richter!
 
„Herrgott, was soll das? Was mach ich da?“, dachte Sebastian und brach die Redigierung seiner individuellen Schmäh-Todesanzeige ab. Er zerknüllte den im Restaurant ausgeborgten Fetzen Schreibpapier und wusste im Moment nicht, ob er erleichtert oder noch immer erzürnt, ob er schadenfreudig und gar wider Erwarten etwas betroffen war. Er konnte es nicht fassen. Hartmann war weg! Endgültig! Und das ohne sein Zutun. Kurz vor Weihnachten. Was soll das bedeuten?
 
 

Das Leben richtet vs. Kasser
 
Aus dem verheissungsvollen Neustart der Politkarriere von Kasser wurde nichts. Er musste in den letzten Wochen einsehen, dass ihm der Kontakt zur einheimischen Presse fast total verloren gegangen war. Seit ihn Hartmann der Lüge überführt hatte, lief in dieser Beziehung nichts mehr. Er war off-line, total out. Dass sein Nachruf auf Hartmann, mit dessen Publikation er sich sanft rehabilitieren wollte, nicht mal publiziert wurde, nahm er als endgültigen Beweis.
Auf seine Anfrage hin, ob sein Eingesandt erst für die Folgewoche geplant war, gab man ihm höflich zu verstehen, dass der Artikel sich aus Präzedenzgründen nicht als redaktioneller Beitrag eigne. Es sei Kasser jedoch freigestellt, seinen Beitrag als Inserat laufen zu lassen.
auf das kärglich eingerichtete Einbettzimmer für Sfr 51.– inkl. Morgenessen.
 
Als er eintraf, war er allein im Berghaus; eine zweite Menschenseele ausser dem Hüttenwart war derzeit
nicht in Sicht. Hartmann genoss den Abend. Und je mehr er trank, desto weniger litt er. Am nächsten Morgen – es war schon beinahe 11 Uhr – erschien er zum Brunch. Wieder etwas indisponiert.
 
Er führte es auf die vorabendliche Fête zurück. Am morgendlichen Frühstücksbuffet schlug er ordentlich zu. Kurz nach Mittag machte er sich wieder auf den Weg. Schon etwa nach einer halben Stunde hatte er ein renitentes, beunruhigendes Herzstechen. Drei bis vier Mal unterbrach er seine Wanderung und versuchte sich zu erholen.
 
Flüssigkeit trinken war angesagt. Er schluckte Aspirin cardio und als es eng wurde 2 Tabletten Nitroglyzerin. Doch der Schmerz blieb und wurde in der nächsten Stunde sein stetiger und unerwünschter Begleiter.
 
Hartmann fühlte sich plötzlich sehr allein. Er kam sich in der öden Bergwelt einsam und verlassen vor. Seine
Kasser war nicht nur enttäuscht; er war gedemütigt. Jahrelang fütterte er die Presse und jetzt, wo ihm die öffentliche Pressepräsenz endlich etwas bringen konnte, verweigerte der Chefredaktor nicht nur den angebotenen Stoff, sondern klaute sogar hemmungslos einige seiner Textbausteine für seine eigene Würdigung. In den Folgewochen stellten seine Freunde und auch seine Feinde, die Dorfbewohner von Heigriswil, kurz: alle, die ihm nahestanden eine verheerende moralische Launenhaftigkeit fest.
 
Er wurde immer defaitistischer und menschenfeindlicher. Er zog sich zurück, war selten mehr zu sehen. Seine Gesichtszüge wurden härter, sein Charakter verschlossener, seine Figur schlaksiger und sein undefinierbar überhebliches Lächeln war selten mehr zu sehen. Dass er nicht an der Beerdigung von Hartmann teilnahm, verübelte man ihm nicht, aber genauso wenig hatte man ihn vermisst.
 
Kasser musste wohl oder übel vom Sockel steigen. Das wurde ihm bewusst, als ihm seine Parteikollegen offen sagten, die Zeit sei nun reif für einen Wechsel im Gemeindepräsidium. Man hob seine grossen Verdienste hervor, gab ihm aber gleichzeitig, wenn auch nonverbal zu verstehen, dass seine Generation einfach nicht mehr in der Lage sei, die Zeichen der Zeit zu verstehen. Für Ideen-Ede gab es nichts mehr zu klauen; er kassierte die wohlverdiente Busse und litt. Er litt unsäglich!
  


Übermannt von der eigenen Sensibilität
 
Seit dem Tod von Hartmann hatte Sebastian einen markanten Schwund beim Fluss seiner kriminellen Energie festgestellt. Vor allem die Schilderungen von Kolleginnen und Kollegen, die an der Beerdigung teilgenommen hatten, bewegten ihn sehr. Was war es denn, das ihn so rachesüchtig gemacht hatte? War sein eigener Misserfolg wirklich nur auf Hartmann, Kasser und die Crettenans zurückzuführen? Musste er sich nicht ein bisschen mehr an der eigenen Nase nehmen? Hartmann hatte aus Distanz betrachtet sicher auch seine guten Seiten gehabt. Der Pfarrer jedenfalls hob viele davon nachhaltig hervor. Man trauerte scheinbar wirklich echt um einen Mitmenschen, der viel Gutes getan und der der Allgemeinheit stets gedient hatte; der ein treuer Familienvater war; der eine Musterkarriere lanciert hatte; dem aber die berufliche Krönung leider versagt blieb.
Dass es Gesetzmässigkeiten gibt im Leben, wurde Sebastian wieder einmal mehr bewusst. Sein Leben und das Leben von Hartmann unterschieden sich im Grunde nicht gross. Ob Räuber oder Geistlicher, ob Rowdy oder Ministrant; ob Politiker oder Normalbürger, im Grunde ähnelten sich alle. Er war überzeugt, alle Menschen haben etwas Engel und etwas Teufel in sich. Jede und jeder muss mal in seinem Leben nachhaltig unten durch. Das ist des Menschen Los. Das gehört zum Leben. Es ist die List der Vernunft unseres Daseins. Die Frage ist nur, wie man damit fertig wird.
 
Seine tiefsinnigen Gedanken hielten sich leider keine 24 Stunden. Die Rechnung mit Hartmann war zwar durch das Universum beglichen worden, aber mit Kasser alias Mader hatte er noch nicht abgerechnet. Das stand ihm noch bevor. Diese Rechnung war noch nicht bezahlt. Ja, wenn er es so überlegte, noch nicht einmal gestellt. Von niemandem! Das wusste er und dieser Herausforderung wollte er sich noch stellen. Koste es, was es wolle! Noch eine einzige Warnung und noch eine einzige Tat, auch wenn er sich trotz der jüngsten Erkenntnisse tatsächlich versündigen musste.
 
 

Wie Schneewittchen zu neuem Ruhm kam
 
Bei seinen Rehabilitationsaufenthalten im Jura begegnete Sebastian Schneewittchen. Schneewittchen war circa 50 Jahre alt. Ihr Ehemann oder ihr Gefährte – so richtig wusste das Sebastian nie – circa 75-80 Jahre. Sie waren in ihrer Region Kult. Schneewittchen führte eine alte, abgefuckte Waldbeiz mit dem zähen Charme einer abgehalfterten Alkoholikerin im Vorendstadium.
Lieblich und reizvoll hingegen war die Beiz. Voller Giggernillis und Krimskrams aus der Zeit um den zweiten Weltkrieg. Ein Portrait von General Guisan, alte Postkarten aus der Region, längst verblasste Reklametafeln aus Blech für Maggi-Produkte, für Fivaz-Cigarren und für Bière de Noel. Retro-Souvenirs wie Blechplättli für Wanderstöcke; alte Edelweiss-Broschen u.v.m. Auf dem Buffet standen alte Karaffen, reihenweise trübe Rotwein-Gläser und einige wenige alte, hohe Kaffeegläser mit sichtbaren Spuren der Zeit, kurz: man fühlte sich, wenn man staubblind war, äusserst wohl.
Dass Hygiene für Schneewittchen ein Fremdwort war und zeitlebens blieb, sah man ihr schon rein äusserlich an. Das ursprünglich schneeweisse Outfit war immer etwas verfleckt und mit den Jahren zu crèmeweiss oder noch präziser formuliert: zu leicht grau geworden mit unterschiedlichen Schattierungen.
 
Ihr Lebenspartner begann in seinem hohen Alter erfolgreich das Studium der jurassischen Landweine. Er war ein ruhiger, friedlicher Zeitgenosse, der nicht viel sprach und nach in etwa der dritten Aufforderung auch das machte, was sein Schneewittchen von ihm forderte.
 
Was den Reiz der Beiz ausmachte, war einerseits das schrille Paar und anderseits der spezielle raue Rotwein. Die Krone aber gebührte den Zvieriplättlis. Die Jurassier Würste – ob luftgetrocknet oder gekocht – und ihr Tête de Moine waren Genuss und Gedicht zugleich.
 
Nebenan hatten sie vor Jahren mal ein Motel für Ross und Reiter gebaut mit ein paar einfachen Zimmern zum Übernachten. Nach ein paar fetten Jahren, wo das Ganze noch rentierte, war’s vorbei. Die Zeichen der Zeit hatten geändert: Einfache Betten reichten nicht mehr. Die Gäste wollten mehr Komfort. So verkam das Motel. Es wurde nur noch von einigen randständigen Vagabunden benutzt, um dem Winter zu trotzen. Sonst blieb es meistens leer.
 
 

Waldemord graust nun im tiefen Jura-Wald
 
Es war am Heiligen Abend, als Waldemord seinen ersten Einbruch verübte. Im Motel war keine Menschenseele. Das war die Conditio sine qua non. Kein Gast, kein Vagabund, nichts; nur Schneewittchen und der selbsternannte Oenologe beim Studium! Und das ging auf. Schummriges Licht, nur ein paar brennende Kerzen auf den Wirthaustischen; wenig Kommunikation zwischen den beiden restlich verbliebenen Gastgebern.
Gegen 22.30 Uhr erloschen die letzten Lichter. Der gemeinsame Promillestand hatte dem Heiligen Abend ein Ende gemacht. Man verliess den Tisch, so wie er gerade war, unaufgeräumt mit halbvoller oder halbleerer Flasche. Halbleer in der Optik von Schneewittchen, halbvoll aus der Sicht des erfahrenen Senior-Oenologen. Sie gingen zu Bett. Sie nach oben; er blieb wie immer unten.
Sebastian drang gegen Mitternacht  in den Moteltrakt ein. Seine Werkzeuge brauchte er nicht, nicht einmal etwas Gewalt. Der Eingang zum Motel war offen. Die Zimmer 1–3 waren infolge Nichtgebrauchs verschlossen, aber Nr. 4 war offen. Zwar war es seiner Meinung nach ein Risikozimmer, eines mit Balkon. Aber die Nacht war monderleuchtet hell und er brauchte für seine Vorbereitungsarbeiten kein Licht.
 
Im Spiegel sah er sich mit seiner hellen Perücke, seinem ausgestopften Bauch und seinem unkorrigierten, schwarzen, strengen Brillengestell im Retrolook. Er war total auf Draht. Seine Sinne waren wach wie nie zuvor. Er hörte selbst die Fliegen wandern und die nahen Hühner schnarchen. Und es brannte unter seinem Arsch.
 
Aber alles ging zügig und schnell, so wie geplant. Jeder Handgriff sass. Die weibliche Puppe war rasch aufgeblasen, drall und fest. Innert Sekundenschnelle hatte er den Strick um ihren Hals gelegt und sie am Zimmerbalken aufgehängt. Auf das Doppelbett legte er ihren männlichen Gummi-Lover, nicht so füllig wie sie, nicht so derb, aber etwas eingefallen, ohne Puste, leblos wirkend., wie er es beabsichtigt hatte Auf den Nachttisch legte er wie immer einen Zettel.
 
„Dies alles ist geschehen, auf dass es sich erfüllen möge! D.“ Dann streute über die Stirn des Geliebten etwas Asche und machte sich lautlos aus dem Staub.
 
 

Das unerträgliche Warten
 
Die Warterei war mühsam. In der Presslandschaft bewegte sich nichts, rein gar nichts. Das alte Jahr klang aus; Silvester vorbei, Neujahr vorbei! Immer noch nichts. Sebastian konnte es nicht glauben. Es war, wie wenn nichts geschehen wäre. Der Zettel, das Puzzlestück, das für Kasser eine zentrale Bedeutung haben sollte, blieb unentdeckt oder unerkannt; wurde entsorgt oder von den ermittelnden Stellen unter Verschluss gehalten.
Nichts drang nach aussen, nicht mal eine lumpige Kurznotiz. Sebastian war enttäuscht und überlegte sich langsam, wie er nun weiter vorgehen sollte. Eine anonyme Botschaft direkt an Kasser wagte er nicht. Zwar würde ihn der letzte Buchstabe, das „D“ wohl auf den entscheidenden Namen bringen. Wenn Kasser richtig kombinierte – und das war ihm zuzutrauen – würde er endlich bemerken, was sich aus den Buchstaben R, A, E, M und D kombinieren liess. Aber das Risiko eines Frontalangriffs war ihm zu hoch. Die Logik des Vorprellens hätte dann wahrscheinlich zur Konsequenz, dass er bald im weiteren Kreis der Verdächtigten stehen würde.
Es blieben ihm zwei Varianten: entweder aktiv zu werden oder passiv zu bleiben. Entweder ein neues Szenario mit gleicher Botschaft oder abzuwarten und Tee zu trinken. Er wählte den Mittelweg und trank Bier. Er wollte sich nicht provozieren lassen.
Am 19. Januar war’s soweit. Es ging ein Ruck durch die Presselandschaft, zwar nicht so spektakulär, aber doch nachhaltig aufseherregend. Im Jura hatte ein Landstreicher im kleinen Kollegenkreis damit geprahlt, dass er am Silvester völlig unerwartet eine Gummi-Suse geschenkt erhalten hatte. Und er schmückte die Geschichte tüchtig aus. Er erzählte von den schrägen Begleitumständen, die er angetroffen hatte. Von der am Kronleuchter hängenden Puppe, vom Gummi-Lover, der auf der Suse lag und von der Botschaft: „Dies alles ist geschehen, dass es sich erfüllen möge. D.“
 
Er bezog das alles auf sich und interpretierte das Ganze als guter Wunsch an D, an Dominique, wie er zum Vornamen hiess. Ein gelungener Silvesterscherz vom Wirteehepaar, wie er dachte. Dass er in den folgenden Tagen die schrillen Exquisiten in öffentlichen Abfallkübeln entsorgte, war ihm nicht zu verübeln. Dass mehr dahinter steckten könnte, bemerkte er erst in den nächsten Stunden. Sein Kollege, „der ewige Student“, wie sie ihn nannten, hatte rasch geschalten.
 

 
Beginnender Aufmerksamkeitsschwund

 
Das Fernsehen berichtete dürftig. Die Tagesschau interessierte das Ganze nicht. 10 vor 10 investierte ganze 18 Sekunden, mehr nicht. Ein paar aktuelle Bilder vom „Tatort“. Ein Kurzinterview mit Schneewittchen, das behauptete, vom Ganzen gar nichts mitbekommen zu haben und dazu ein paar Sätze ihres Kompagnons:
„Dominique hat sich am Neujahr für das tolle Geschenk bedankt und erwähnt, dass er noch rüstiger sei, als ich wahrscheinlich gedacht habe. Was er damit meinte, war mir nicht klar!“ und auf die Frage des Reporters, was er denn gemeint haben könnte,  meinte der Wirt: „Das ist Männersache!“ 
 
Im Blick, diesmal auf Seite 2, stand wohl in fetter Schrift, aber relativ klein:
 
"Waldemord am falschen Ort!
Kronzeuge vernichtet Indizien und Beweise"
  

Dazu ein paar Aussenaufnahmen von der Beiz, dem Reiter- und Pferde-Motel, und ein paar Innenaufnahmen vom Zimmer 4, in dem das Ganze passiert war; eine kurze Schilderung des Sachverhalts und im Kommentar die Frage des Redaktors, ob dieses kriminelle Imponiergehabe nicht langsam zum harmlosen Auslaufmodell ausmünde.
 
Die Meinungen in den verschiedenen Medien waren sehr unterschiedlich. Die Basellandschaftliche Zeitung forderte die Leser auf, ihre Meinung kund zu tun.
 
A: Fühlen Sie sich irgendwie bedroht? B: Nehmen Sie das Ganze nicht mehr ernst? C: Hat mich nie interessiert.
Die Resultate am Folgetag waren interessant: A: 9%, B: 73%, C: 18%.
 
Immerhin, dachte Sebastian, aber sein Erfolgsmodell verlor an Popularität, das musste er allmählich zur Kenntnis nehmen.
 
In der NZZ wurde er nicht mal mehr erwähnt und die Mittellandzeitung begnügte sich mit der Veröffentlichung des offiziellen Presscommuniqués und einem Kurzkommentar. Auch hier wurde auf ein Foto verzichtet. Den grössten Raum gestand ihm logischerweise die jurassische Presse zu.
 
Pelletier, der legendäre Tapir, war einmal mehr federführend bei den Ermittlungen. Er ärgerte sich masslos über die Naivität von Dominique und war überzeugt, dass hier eine grosse Chance vertan wurde. Er war im Gegensatz zur Mehrheit der Bevölkerung der Meinung, dass dies die letzte Warnung von Waldemord war und er bald zuschlagen würde. Seine kriminalistische Erfahrung sagte ihm, dass gerade dieser Event eine besonders tiefe Bedeutung haben musste. Er beschloss, Waldmord zu provozieren. Falls die vermutete Botschaft am Tatort nicht angekommen war oder nachträglich entsorgt wurde, würde das inszenierte Puzzle nicht aufgehen. Das Spiel mit dem Tod wäre für den Psychopaten nicht perfekt. Er wollte Waldemord zu einem Fehler verleiten; wollte ihn zwingen, irgendwo und möglichst bald nochmals zu deponieren, was er zu sagen hatte. Er war in den letzten Monaten beinahe zu 100 % überzeugt, dass die Buchstaben nichts über den Absender aussagten, sondern etwas über den Adressaten.
 
Die grösste Knacknuss für ihn war das grosse „M“. Dieses Rätsel konnte er noch nicht lösen. Vielleicht war der fette Grossbuchstabe ganz einfach purer Zufall oder ein Versehen. Er könnte aber auch – und das meinte er - eine besondere Bedeutung haben. Der Tapir hatte einmal mehr Fährte aufgenommen.
 

 
Die Weisheit eines Aussenseiters
 
Pelletier’s Poker ging nicht auf. Einmal mehr kam ihm wieder die Vagabonderie jurassienne in die Quere. Anstelle des untergetauchten Dominique gab der Quotidien Jurassien Jean-Pierre, dem „ewigen Studenten“ eine riesige Plattform, sich zu den Vorkommnissen im Wald zu äussern. Zwar aus zweiter Hand, aber umso spannender.
 
Der Interviewte nutzte die Gelegenheit. Er gab sein Wissen preis. Erzählte, was er gehört hatte. Erzählte von den beiden Sexpuppen. Erzählte vom Strick, an der die Gummi-Suse hing, liess sich über erschlaffte Konstitution des Lovers aus und rezitierte genüsslich die Botschaft, die Dominique scheinbar zur Kenntnis nehmen durfte:
„Dies alles ist geschehen, dass es sich erfüllen möge. D.“
 
Dominique brauchte, so meinte er, nicht mehr alleine im Bett zu liegen, um sich, seine Phantasien und seinen Körper selbst zu verwöhnen. Er hatte nun eine eigene Partnerin und darauf war Dominique, wie der „Ewige“ meinte, scheinbar mächtig stolz.
 
Auf die entsprechende Frage des Reporters musste  Jean-Pierre eingestehen, dass er  seit 14 Tagen keinen Kontakt mehr zu seinem Kollegen hatte. Dominique war unauffindbar, war wie vom Erdboden verschwunden; weg von der Welt, was absolut nicht seinen bisherigen Gewohnheiten entsprach.
 
Der Dauer-Studiosus war nicht auf den Kopf gefallen. Auch er hatte sich Gedanken gemacht. 1. hatte Dominique keine Ahnung und keine Kenntnis von Waldemord’s bisherigen Untaten gehabt und 2. war es seiner Meinung nach obernaiv zu glauben, dass der greise Wirt im Schneewittchen’s Waldpub ihm ein Weihnachts- oder Neujahrsgeschenk machen wollte.
 
Er fragte sich, ob das Ganze nicht eine Drohung an „D“, an Dominique selbst war. Er zweifelte, ob sein Kollege überhaupt noch am Leben war. Rechtsextreme Besserwisser, Sozialhilfekritiker und Randgruppenhasser hätten immer schon über ein gewisses Gewaltpotential verfügt. Alles spreche dafür, dass die bisherigen Schlussbuchstaben mehrere, d.h. auf die anvisierten Opfer hindeuteten.
 
Dominique könnte der erste gewesen sein, der ins Gras beissen musste. Die örtlich verschiedenen Morddrohungen könnten nicht nur auf die Mordart, sondern auch auf die Region der Mordtat hinweisen. Dass freie, gewaltlose Naturmenschen bedroht würden, sei höchst verwerflich, aber entspreche doch einer gewissen Logik eines geisteskranken Psychopaten: Waldemord zeige sich immer in verlassenen Gegenden, höchst wahrscheinlich genau am gleichen Ort wie seine potentiellen Opferfiguren.
 
Das könne kein Zufall sein, meinte er und forderte das Polizeisystem auf, sich endlich der wirklichen Kriminalität zuzuwenden und nicht Leuten, die ehrlich und redlich waren; die sich vom Durchschnittsvolk nur dadurch unterschieden, dass sie einer eigenen Lebensphilosophie frönten und konsequent eine andere naturnähere, im Grunde genommen christlichere Weltanschauung verfolgten und auch konsequent durchlebten.




Zur Heimkehr oder wohin sonst…?
 
In den letzten Wochen wirkte Sebastian für die Aussenwelt wieder etwas entspannter. Seine Gesichtsfurchen und insbesondere seine tiefen Augensäcke glätteten sich zunehmend wie von selbst. An besonders guten Tagen hatte er beinahe wieder die Ausstrahlung wie zu seinen besten Zeiten. In der Familie schwanden die knisternden Momente mehr und mehr.
Man konzentrierte sich wieder auf das Gemeinsame. Rihanna und Noemi waren zwischenzeitlich ausgezogen. Obwohl sie beide einen scheinbar längerfristigen Lebenspartner gefunden hatten, pflegten sie den Kontakt zu ihren Eltern – vor allem zur Mutter – immer wieder, per Handy, per SMS, per e-Mail, über social Media bis hin zu persönlichen Besuchen vor Ort. Die Mutter war gefragt bei Karrierefragen, bei Gesundheitsfragen, bei Kochrezepten, selbst bei lockeren weiblichen Plaudereien.
Es war am 9. Januar, zwei Tage nach dem offiziellen Geburtstag von Rihanna, als es passierte. Caroline und Sebastian hatten ihre ältere Tochter zu ihrem Geburtstagsessen in ein nobles Speiserestaurant eingeladen. Den „Runden“ wollte man standesgemäss feiern. So machte man sich abends gut jacketiert und reich mit Geschenken beladen auf zum Ort des lukullischen Mahls.
Als Caroline und Sebastian das Lokal betraten, sass Rihanna über das ganze Gesicht strahlend bereits am vorbestellten Tisch. Die Vorzeichen für einen friedlichen und genussvollen Abend standen gut.
Nach der üblichen Kusszeremonie und der gegenseitigen Komplimentverteilung unterhielt man sich über die vorgestrige, etwas monströse Geburtstagsparty in Zürich und versuchte, sich langsam an die unbequemen, etwas zu hart geratenen Designerstühle im Nobellokal zu gewöhnen.
Das Nachtessen war schlicht hervorragend: Das Rindsfilet von Rihanna war wie gewünscht saignant und superzart, das Kalbssteak von Caroline à-point wie aus dem Kochbuch der Chaine des Rôtisseurs, die Morchelsauce ein Gedicht. Einzig Sebastian’s Hohrückensteak mit grünem Pfeffer hatte einen winzig kleinen Makel. Beim Cognac in der Pfefferrahmsauce hatte der Maitre de Cuisine wahrscheinlich den Esslöffel mit einem Schöpflöffel verwechselt. Trotzdem genoss man es in vollen Zügen. Rihanna ihre Pommes, Caroline ihre Kroketten und Sebastian sein Safranrisotto und alle zusammen ihr reichhaltiges Gemüsebouquet und vor allem den Wein einen Salice Salentino, Riserva 2010 und das Mineralwasser aus der heimischen Quelle.
Als sich die „Alten“ nach einem gebührenden Verdauungsschwatz in die Dessertkarte vertiefen wollte, griff Rihanna schmunzelnd ein und erklärte den staunenden Eltern, dass sie das Dessert gleich selbst mitgebracht habe. Sie griff in ihre Ledertasche und kramte einen Schlüsselanhänger hervor. Sebastian sah aus den Augenwinkeln noch wie Caroline über alle vier Backen strahlte, als Rihanna ihm ein gelbes Tuch auf das Tischset legte.
Sebastian war ein bisschen irritiert und wusste nicht, was das Ganze soll. Etwas ratlos und verlegen kehrte er das Tuch und schnallte sofort, um was es ging. Es war ein Nuscheli: „Grosspapi’s Liebling“ stand darauf in blauen maschinengestickten Bradley Hand-Buchstaben. Er würde endlich Grossvater. Endlich! Darauf hatte er lange gewartet.
Und noch ehe das grosse Glücksgefühl einfuhr, bekam er gleich noch ein paar crèmefarbige Babysocken mit einem herzigen, weissen Mäuschengesicht. Die angehende Grossmutter küsste Rihanna innig - cora publico - vor der ganzen Gästeschar im Speisesaal und Sebastian vergoss öffentlich ein paar Freudentränen. Seit langem hatte kein Ereignis, hatte ihn nichts  mehr so positiv in seiner innersten Seele berührt.
Für einmal verbrachte er einen Abend, ohne auch nur eine Minute an Hartmann, an Kasser oder an die Crettenans zu denken. Das war seit geschätzten zwei Jahren nicht mehr passiert.
 


​Kasser’s grosses Schockerlebnis
 
Kasser war geschockt. Tief geschockt. Der Artikel im Quotidien Jurassien, auf den er bei einem seiner Ausflüge in den Jura gestossen war, brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Er las von Waldemord’s neuestem Coup und was im Detail genau vorgefallen war. Zum ersten Mal vernahm er etwas über die konkrete Botschaft, die scheinbar auch dieses Mal am Tatort vorgefunden wurde: „Dies alles ist geschehen, dass es sich erfüllen möge. D.“
 
Kasser stockte der Atem. Im gleichen Augenblick war ihm alles klar. Das Ganze war eine Drohung an ihn; er war gemeint. Alles sprach dafür, wirklich alles. Das Puzzle war vollständig, das Rätsel gelöst. Die Einzelbuchstaben mussten als Ganzes gesehen werden. Sie waren kein Absender, kein Gegenstand, kein Deckname. Sie ergaben den Adressaten. Er war sich sicher; so sicher wie selten zuvor im Leben.
 
Das grosse halbfette „M“ war der Anfangsbuchstabe und aus dem Rest liess sich der Name des Opfers oder wie hier des Scheinopfers komponieren. Aus M, R, A E und D entschlüsselte er relativ einfach den Geschlechtsnamen von Eliane, seiner Geliebten. Nicht nur, dass Eliane Mader im gleichen Dorf wie Schneewittchen wohnte, sondern auch das Szenenbild im Waldmotel sprach ganz klar für seine Theorie.
 
Der ewige Student lag falsch. Eindeutig! Die angedeutete Sexszene galt ihm. Sein Alter wurde durch die verfallene Darstellung des Körpers dargestellt. Die Asche deutete auf seinen kommenden Tod hin. Was er noch nicht interpretieren konnte, war einzig die Symbolik der Erhängung.
 
Kasser ging ohne Besuch bei Eliane zurück nach Heigriswil. Er hatte Angst, Riesenangst und stürzte in ein tiefes psychisches Loch. In den Folgetagen war er wie gelähmt. Sein logisches Denkvermögen liess arg zu wünschen übrig. Er wusste nicht, wie er weiter vorgehen sollte. Er war
zu tiefst verwirrt. Er sah keinen Sinn mehr in seinem Leben. Er war in eine grausame Sackgasse geraten. Zum ersten Mal sah er keinen Ausweg mehr.
 
Seiner Familie konnte er sich nicht anvertrauen. Das Thema war zu heikel, vor allem für seine Frau, aber auch für seine mittlerweile erwachsenen Kinder. Das Risiko war zu gross! Sie würden sich von ihm abschotten, ihn ausgrenzen, ihn bluten lassen, eventuell sogar brutal ausnehmen. Das wollte er nicht.
 
Und seine Geliebte wollte er nicht mit hineinziehen. Sie hatte in ihrem Leben schon genug durchgemacht. Sie sollte in ihren spätweiblichen Jahren nicht noch das zähe Erlebnis einer Monate dauernden Angst eventuell sogar um ihr eigenes Leben durchmachen müssen. Zudem würde auch sie unbequeme Fragen stellen und für rationale Diskussionen nach den üblichen Gesetzen der Logik fehlte ihm derzeit ganz einfach die Kraft.
 
In den darauf folgenden Tagen und Wochen schluckte Kasser massenweise Psychopharmaka, meist sogar mehr als der Arzt verschrieben hatte. Er fühlte sich schlecht, grottenschlecht.
 

 
Die schicksalhafte Botschaft
 
Als Sebastian wieder einmal ins regionale Einkaufszentrum ging, begegnete im regionalen Einkaufszentrum
der völlig überraschend der Crettenans. Er sah sie schon von weitem. Ihr überselbstsicherer Gang, ihre auffälligen Lippen und ihre noch üppigere Figur als je. Sie hatte sich zu einer echten Wuchtbrumme entwickelt.
Eine Chance, ihr auszuweichen, hatte er keine mehr. Der Korridor war lang und eng. Blieben höchstens noch ein paar Schaufensterauslagen, die sich anboten. Aber welcher Idiot starrt denn während Minuten Erdbeertörtchen an, ohne welche zu kaufen. So stellte er sich der Herausforderung. Er wollte sie eben mit ihrem Vornamen bewusst flüchtig und oberflächlich grüssen, als sie ihn wie einen altvertrauten Kollegen ansprach. Mit den üblichen höflichen Einleitungsfloskeln:
„Hallo, tschau Sebastian! Wie geht es denn? Gut in die Pensionierung gestartet?“ und mit süffisantem Lächeln: 
„Scheinbar nicht  schlecht! Der Wohlstand ist unübersehbar!“
Dumme Kuh, dachte Sebastian. Vom Umfang her könnte sie beim Adel sein, aber er entgegnete nichts. Er wusste sogleich, dass sie eigentlich auf ihre Fragen keine Antwort erwartete; denn wirklich interessiert am Menschen war sie nie, ausser sie konnte etwas profitieren. Sie verwickelte ihn zunächst in eine belanglose politische Diskussion, ehe sie auf den Kernpunkt kam, den selbst Sebastian neugierig machte: Sie begann über Kasser zu sprechen.
 
Im Gegensatz zu früheren Aussagen, als sie ihn noch in Schutz nahm, liess sie nun kein gutes Haar mehr an ihm. Er habe schwer abgegeben, meinte sie. Vor allem als Mensch. Er wirke in letzter öfters abwesend, irgendwie verbittert; sei menschscheu geworden und habe sich zu einem richtig pessimistischen Negativdenker entwickelt. Seine frühere Lebensfreude sei erloschen. Er müsse irgendwas Fundamentales vorgefallen sein. Ob er etwas wisse oder etwas davon gehört habe?
 
Sebastian nahm den Zustandsbericht über Kasser mit Befriedigung zur Kenntnis und versuchte in der Mimik der Crettenans zu lesen, was sie im Moment dachte und was sie erwartete. Mit der Antwort liess er sich bewusst etwas Zeit. Er tat, als ob er studierte. Dann gab er sich erstaunt und scheinbar überrascht. Er liess sich aber nicht auf eine Diskussion ein; ganz bewusst nicht. Im Gegenteil!
 
Er stellte ein paar belanglose Fragen zu ihrem jetzigen Dasein, aber ihre Antworten interessierten ihn genauso, wie sie seine Antworten interessiert hatten, nämlich  nicht im Geringsten. Sie redeten noch circa fünf Minuten weiter, ohne einander zu erreichen. Die Crettenans hörte nurhelbwegs zu. Sie grüsste jeden zweiten vorbeilaufenden Erdenbürger und Sebastian hatte kein Informationsbedürfnis mehr. Was sie ihm erzählt hatte, reichte ihm. Er wusste nun, was er seit Wochen wissen wollte.
 
 

Der überraschende Exitus
 
Der Tapir sass in seinem Büro und studierte. Der Fall Waldemord liess ihm keine Ruhe. Er verfluchte ihn, weil er nicht gross weiter kam. Er faszinierte ihn auch, weil er raffiniert durchdacht war und beinahe fehlerfrei durchgezogen wurde. Und wenn mal ein Fehler passiert war, kippte das Wohlwollen des Schicksals auf die Seite seines unbekannten Gegners.
Er regte sich auf, dass Dominique im Waldhaus die möglichen Spuren verwischt respektive entsorgt hatte. Es erbitterte ihn immer noch, dass der ewige Student mit seinen Aussagen in der Presse seine raffiniert gestellte Falle aufgehoben hatte. Auf der anderen Seite empfand er auch eine gewisse Hochachtung gegenüber dem Müssiggänger.
Die Idee, dass Randständige in den Mordfokus der rechtsextremen Szene gerieten, war nicht von der Hand zu weisen. Zumindest entsprachen sie in etwa dem Zeitgeist. Nicht nur Psychopaten waren für viele Extrem-Horrorarien empfänglich, auch Extremisten müssen in Betracht gezogen werden. Wieso könnte sich der „Täter“ nicht auch die Ausmerzung der parasitären Sozialhilfeempfänger zum Ziel gesetzt haben? Der letzte Fall zumindest könnte in diese Richtung tendieren.
Vielleicht war seine bisherige 2-Opfer-Theorie falsch. Sie gründete, wenn er sich das Ganze überlegte, rein darauf, dass zwei verschiedene Achsen wahrnehmbar waren. Aber - und das musste er sich eingestehen – es gab in der ganzen Schweiz Landstreicher und Ausnutzer des gesellschaftlichen Wohlstands. Was ihn einzig bei dieser Theorie irritierte, war die regelmässige, fast stur durchgezogene Abwechslung von der Ost- zur Westachse. Das war nicht logisch und nicht erklärbar. Er kaute am Knochen und fand den Durchbruch zum Mark der Wahrheit nicht.
 
Anfangs März war es dann soweit. Von seinen französischen Kollegen erhielt er die Mitteilung, dass Dominique in den elsässischen Wäldern verstorben sei. Auf eine äussere Gewalteinwirkung deutete nichts hin. Entsprechende kriminologische Untersuchungen wurden keine eingeleitet. Es musste von einem natürlichen Tod ausgegangen werden.
 
Den Tapir kümmerte das nicht. Das wollte noch nichts heissen, wenn die Innendienstler kein brauchbares Resultat vorweisen konnten. Vielleicht war an der Theorie des ewigen Studenten doch was dran. Wenn die Drohung:
„Dies alles ist geschehen, dass es sich erfüllen möge. D.“, 
 
wirklich an Dominique gerichtet war, dann hätte man zumindest eine lauwarme Spur. Pelletier scheute sich nicht, seine neuesten Überlegungen als durchaus valable Variante an der nächsten interkantonalen Konferenz kund zu tun. Und was der Tapir von sich gab, wurde ernst genommen.
 
 

Ein Traum mit schweren Folgen

 
Sebastian sass auf einem Aussichtspunkt in der Nähe von Heigriswil. Er bewunderte das traumhafte Panorama der Jurakette und atmete den frischen Duft der neu spriessenden Frühlingsblumen ein. Er genoss den Duft der nahen Bäume, das Aroma der roten Waldnelken, der Vergissmeinnicht, der kriechenden Tormentill, der Schlüsselblümchen und des Steinkrauts. Das Klima verzauberte ihn. Die warme Frühlingssonne lullte ihn ein. Er dachte an Hartmann und an Ideen-Ede. Die Mühlen der Gerechtigkeit hatten gemahlt, dachte er, langsam zwar, aber sie mahlten bis zur Zermalmung und zwar brutal. Was bleibt ist Mehl, beim Menschen letztendlich nur noch Asche. Er atmete tief durch. Hatte er seine Mission schon vollendet? Er war sich nicht sicher. Aber das Ende war nah! Es war in seiner Vollendung! Er würde es bald geschafft haben.
 
Er sass da, entspannt wie selten in den letzten zwei Jahren. Sebastian war müde, geschafft und sehr schläfrig. Er nahm die kleine Erdspalte, die sich vor ihm auftat, als kleines Wunder der Natur, als Eingang zur Unterwelt, als Entsorgungsstelle für Unrecht und Verbrechen, als Deponie für Psychoschrott. Er sah sich selbst, wie er all seine Belastungen und tiefen Verletzungen eigenhändig entsorgte, wie er eimerweise schlechte Erinnerung ausleerte und damit sein verhärtetes Herz entkrustete, als sich plötzlich eine wunderschöne, tieffarbige, circa 50 cm grosse Seifenblase durch den Erdspalte an die Erdoberfläche wagte.
 
Die Farben waren so bunt und schön, dass Sebastian das Wunder fotografieren wollte. Doch noch während er an seiner Kamera hantierte, veränderte sich das Bild. Die Farbtöne, die Farblinien gerieten in Bewegung. Die Farben mischten sich, veränderten sich, mit der Zeit konzentrierten sie sich langsam auf gewisse Farbfacetten. Es war ein faszinierendes Schauspiel. Die Farben komponierten ganz langsam ein stetig wachsendes Bild.
 
Die anfangs heitere Farblichkeit nahm zusehends düstere Formen an. Ohne Schwarz, mit nur wenig Grau, aber sehr düster im Inhalt. Mit der Zeit entstand eine Angst einflössende, schreckliche Fratze mit roten Augen, blauen Mund und weisser Nase. Ob sie grinste oder im Schrecken erstarrt war, konnte er nicht wahrnehmen. Es umgab sie eine rot-gelb-graue, undefinierbare Aura. Er sah eine Dreieckbeziehung, die von Stacheldraht umgeben war. Er sah einen blauen Maulkorb und eine Eisenbahnschiene, die ins Nichts führte. Das Unwesen war so chaotisch, dass man es kaum beschreiben konnte. Und der Hammermann so präsent, dass man das Gefühl hatte, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis er seine Sense auspacken würde.
 
Die eingesperrte Fratze wollte mit ihm reden, pochte an die Seifenblase. Aber Sebastian hörte nichts. Die Seifenblase schien aus Sicherheitsglas zu sein. Sie zeigte kein Verständnis. Sie liess keinen Ton passieren und blieb fest verschlossen. Als die Fratze langsam zu resignieren begann, rauschte die Seifenblase ab. Nicht himmelwärts, nicht höllwärts, einfach in die Horizontale, in die Ferne. Sie wurde immer kleiner und kleiner, schrumpfte zum Tennisball, zum Kieselstein und schlussendlich zum kleinsten noch wahrnehmbaren Punkt, dann erwachte Sebastian. 



Aller guten Dinge sind drei
 
Sebastian hatte in der Presse die neuesten Tattheorien zur Kenntnis genommen. Man glaubte, ihm auf der Spur zu sein. In Wirklichkeit war man seiner irrigen Meinung nach Meilen weit davon entfernt. Das beruhigte ihn zumindest etwas. Nicht dass er in letzter Zeit nervös geworden wäre, aber ein Mindestmass an Angst, eines Tages entdeckt zu werden, war latent vorhanden und zerrte – das spürte er auch körperlich – nachhaltig an seinen Nerven. Hartmann hatte mit dem Tod bezahlt. Damit hatte er nichts zu tun oder zumindest nicht etwas strafrechtlich Relevantes. Das war unbestritten.
Zu denken gab ihm in den letzten Tagen vor allem sein jüngster Traum. Das Rätsel der Seifenblase. Je länger er darüber nachdachte, je mehr glaubte er an ein übersinnliches Zeichen Gottes. Was wollte ihm Gott sagen? Was war die wirkliche Botschaft des skurrilen Traumbilds? Wollte ihm seine Seele sagen, dass er in einer Traumwelt lebte? Dass er sich von der Umwelt abgekapselt und den Bezug zur Realität verloren hatte? Sollte er vor einem Misserfolg gewarnt werden?
 
Im Innersten wusste er, dass diese Überlegung gar nicht so weit hergeholt war. Es war die Bestätigung dessen, was ihm in den Tagen zuvor durch den Kopf gegangen war.  Nur was sollte das mit der furchterregenden Fratze? Sebastian fühlte sich absolut nicht abstossend, äusserlich für sein Alter abgesehen von seinem jahrgangbedingt erhöhten Bodymass-Index gar nicht mal so unattraktiv.
 
Die verzerrte Fresse hatte nichts mit seinem luziden, im Grunde genommen lieblichen Wesen zu tun! Im Gegenteil: Devilish Smile, das passte ganz klar zu Kasser. War der Sinn der Traumbotschaft etwa, dass Ideen-Ede endgültig gefangen war in seiner eigenen Seifenblase, einer unerbittlichen, unaufbrechbaren Lebenskugel. Dass er nicht mehr die Kraft hatte, sich selbst zu befreien.
 
Kasser war nur noch ein Schatten seiner selbst. Er war vom seinem ehemaligen verdienstvollen, öffentlichen Lebenspodest direkt in den Sumpf des Alltags geglitten. Er hatte sein positives Karma besudelt und seine Ehre verschandelt.
 
Das hohe Gericht des Lebens hatte scheinbar sein Urteil gesprochen. Gnadenlos! Lebenslängliche Haft ohne Bewährung! Kasser würde fortan mit der unheilvollen Weissagung bis ans Ende seines Daseins leben müssen:
 
„Dies alles ist geschehen, dass es sich erfüllen möge. D.“
 
Je länger Sebastian darüber nachdachte, umso sicherer wurde er, dass diese Traumdeutung die richtige war. Zum ersten Mal konnte er sich vorstellen, von seinem mörderischen Vorhaben loszulassen.
 
Aber eines Tages, als er mit seiner ehemaligen Pflegedienstleiterin wieder mal zusammen sass, sprach sie aus heiterem Himmel vom LoL2A-Prinzip. Von Actio = Reactio, von Liebe im Quadrat und von der Bedeutung des Loslassens.
 
Am besagten Abend mochte er von diesem Geschwafel nichts mehr hören, aber es löste in ihm etwas aus. Er sinnierte in der Folge tage-, ja wochenlang über Gott und die Welt. Dachte nach. Hinterfragte sich. Was hatten ihm die letzten 24 Monate gebracht? Was seiner Familie, seiner Frau, seinen Kindern? War er wirklich glücklich? War dies der Sinn seines irdischen Daseins? Er schwankte zwischen den beiden Extremen: Seine kriminellen Vorhaben durchziehen oder ruhen lassen und kam zu keinem Schluss. Aber er wurde wieder etwas versöhnlicher. Sein Herz enthärtete sich; es wurde wieder weicher und lebensfreudiger.
 

 
Der magische Tag
 
Sebastian brachte jenen Tag im November letzten Jahres einfach nicht aus seinen Hirnzellen heraus. Oder faszinierte ihn plötzlich das Nichts? Die Null, die Leere. Eigentlich nahm er sich am Vorabend vor, ein möglichst furchterregendes Szenario zu entwickeln. Aber am nächsten Morgen: null Idee, kein Funke, keine Gedankenblitz, kein Satz, einfach nichts! Er lahmte im Haus herum, wie von einer akuten Arbeitsallergie befallen. Hatte zu nichts Lust. Ausnahmsweise waren neuen E-Mails im Netz; nur Spams, die er mit einem missmutigen Tastendruck löschte. Die Langeweile umzingelte ihn langsam und vereinnahmte die karge Einöde seiner Gedanken.
 
Gegen Mittag entdeckte er den blauen Himmel. Die Wolken, der Nebel und der chläbrige Dunst hatte das Feld geräumt. Die Sonne stieg auf und glitt langsam über die angefrorenen Gräser des heimischen Banns. Es war ungewöhnlich ruhig im Quartier. Ein paar Zufahrtsstrassen gesperrt und Caroline arbeitete wie immer am Mittwoch in der Praxis.
 
Plötzlich überkam Sebastian eine seltsame, fast übersinnliche Stille. Dass die innere Ruhe und die nachdenklich-beschauliche Kontemplation ideale Früchte zur Erkennung von Sinnfragen sind, wurde ihm erst zu dieser Stunde bewusst. Während die Sonne den Garten langsam, fast zentimeterweise vom Firn befreite, schruppte und fegte  der blaue Himmel nach und nach sein arbeitsunwilliges Gehirn.
 
Sebastian merkte und spürte plötzlich in seinem Innersten, dass er Teil eines grossen Ganzen ist; selig eingebettet im weiten universellen All. Nota bene und zu seinem Glück im privilegierten Teil! Denn erstens war er als Mensch geboren, also als Wesen mit zwar zu wenig, aber doch etwas Verstand. Er konnte und kann zu jeder Zeit - auch jetzt - immer selbstverantwortlich entscheiden und handeln. Zudem war er als Schweizer geboren (oho!) und war dankbar, dass er in einer paradiesischen Blase, in einem der reichsten und doch sozialsten Staaten lebte.
 
Er genoss sinnenfreudig alles, was ist; was kreucht und fleucht. Wieder einmal wurde ihm bewusst, dass auf dieser Erde alles eins ist. Ob Pflanzen, Menschen oder Tiere. Völlig egal welche Arten, welche Sorte, welche Rasse, welche Hautfarbe; ob weiss, gelb oder schwarz. Alle Menschen sind mit allem verbunden, quasi „online-on-earth“.
 
Er machte sich Gedanken über die vier Elemente Luft, Wasser, Feuer und Erde und kam zum Schluss, dass diese uns eigentlich am Leben halten. Ob besser oder schlechter, reicher oder ärmer, die ganze Menschheit sitzt im gleichen Boot, am selben Topf und in der gleichen Zukunft. Wie diese aussieht; ob wir eine gemeinsame Zukunft haben; ob die Menschheit überhaupt in der Lage ist, generationenübergreifend eine sinnvolle, göttliche Lebensgestaltung anzustreben und ob sie reifen kann, entscheidet ihre Mentalität, ihre Denkhaltung und ihre Religiosität. Und da liegt – war Sebastian der Meinung - noch ein gewaltiges Entwicklungspotential brach. Diese Einsicht oder Erkenntnis irritierte ihn zunächst ein wenig; doch mit der Zeit überrumpelten ihn seine eigenen Gedanken.
Wäre es nicht gerade im seinem Greisenalter angebracht, dachte er, die einst jugendlichen Ideale zu reaktivieren und sie mit der eigenen Lebenserfahrung und der Weisheit des Alters zu kombinieren? Zum Nachteil der bestehenden Gesellschaft wäre dies sicher nicht.
In welche verheerende Sackgasse bin ich in den letzten Jahren geraten. Welche Seifenblase konnte mich so blenden. Braucht es wirklich einen magischen Tag im Leben, der einem die Augen, die Sinne  und gar die Herzen öffnet? Seine grosse Vergeltungsstrategie war scheinbar bloss Einbildung, war irrig und völlig unnötig!
 
Mit Kampf löst man keine Probleme. Kampf vergeudet Energie, verhärtet, bringt auseinander; Kampf vernichtet und hinterlässt nur Trümmer und Elend. Einen wahren Sieg erringt man nur mit Liebe; denn Liebe vereint, setzt positive Kraft frei, öffnet Herzen und säht Gutes. Woher wir auch stammen, und zu dieser Erkenntnis gelangte Sebastian: wir sind eins und zusammen.
 
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Die heilige Wandlung?
 
Tatsächlich! Seit Sebastian wusste, dass er Grossvater werden würde, machte er eine seltsame Wandlung durch. Seine Denkprioritäten änderten. Seine Lebensschlacht, seine Vergeltungsszenarien traten in den Hintergrund. Er dachte viel an sein kommendes Grosskind. Da er nicht wusste, ob es ein Knabe oder ein  Mädchen würde, hiess es bald männlich herb Karl-Otto oder bald weiblich sanft Carlotinchen.
Er machte sich Gedanken, in welche Welt denn nun ein Neugeborenes geraten würde. Wenn er sich so überlegte, was er alles durchgemacht hatte; wenn er sich vorstellte, was alles auf sein Grosskind zukommen würde, übermannte ihn ein echter Seelenschmerz.
Sebastian hatte definitiv genug, er hatte sein Leben beinahe schon gelebt! Seine Energie drohte allmählich zu versiegen. Er hatte gerade in den letzten Jahren gravierende Fehler gemacht und zwar nicht wenige. Er hatte  sich etwas vorgespielt; war nicht ehrlich zu sich selbst. Das wurde er ihm schmerzlich bewusst. Er lebte, um es auf den Punkt zu bringen, in seiner eigenen Welt; nicht wie Kasser in einer äusserlich bunt strahlenden Seifenblase, aber im Grunde genommen ebenfalls gefangen und zwar in einem abgrundtiefen Hass und in selbst definierten Wahnvorstellungen.
Aber nun gab ihm das Leben dank der bevorstehenden Geburt seines ersten Grosskindes nochmals eine Chance. Es gab ihm vielleicht die letzte Gelegenheit, auf den Weg der echten, tiefen Liebe zurückzukehren.
Karl-Otto oder Carlotinchen hatte - hoffentlich - ja auch ein paar Anlagen von ihm, hatte ein paar Kleiber-Gene. Je länger Sebastian darüber nachdachte, desto mehr hoffte er, dass sein Grosskind von ihm seine lebensfreudige, aufgestellte, vife Art geerbt hatte und nicht seine destruktive Haltung der letzten Jahre. Es sollte die sportliche Konstitution und den Optimismus seiner Jungspundjahre erben. Das war sein innigster Wunsch.
Er schwor sich, ihm beizubringen, wie eine Verhärtung, eine Versteinerung des Herzens durch das Erlebte, durch das Leben schlechthin vermieden werden konnte. Aber dazu brauchte er Zeit. Er musste mindestens noch 10 – 15 Jahre leben. Und wenn er das schaffen wollte – das spürte er – dann kam er nicht darum herum, sein Weltbild, seine Weltanschauung wieder grundlegend umkrempeln .Er musste wieder lernen zu lernen. Er musste seine jüngste Lektion verarbeiten. Und wie schwer dieses Vorhaben Menschen im Rentenalter fällt, wissen nur jene, die es schon selbst erreicht haben.
„Was ist der wahre Sinn des Lebens?“, fragte sich Sebastian, „Einfach nur, sich weiterzuverpflanzen? Sich zu vermehren? Treu zu sein und gottesfürchtig? Demütig, gläubig, aufopferungsvoll und opfer-batzig?“
Sebastian, der sich zeitlebens gegen das Obrigkeitsdenken sträubte, war dieses heuchlerische, scheinheilige, götzenartige Gehabe je älter er wurde, desto widriger.
Bis zum seinem 60. Geburtstag war er immer ein Positivdenker gewesen, manchmal so positiv, das es an Naivität grenzte. Er spürte: Die letzten Jahre hatten ihn altern lassen, hatten an ihn genagt, hatten ihn innerlich beinahe zerfressen. Seine Seele war zu einem Sammelsurium des Verdorbenen, des Bösen, des Tod bringenden, ja gar des Selbstzerstörerischen geworden.
In welche verheerende Sinnspur war er da geraten? Je mehr Sebastian sich mit dieser Thematik auseinander setzte, desto grösser war die Bestätigung, dass er auf einen gravierenden Irrweg geraten war. Er verwaltete, verdrängte, er dramatisierte und manipulierte seine Erinnerungen derart, dass er  seinen mentalen schleichenden Suizid am Ende gar nicht mehr erkennen konnte.
Aber den effektiven Sinn seines Daseins zu finden und tiefer zu erkennen, war beim Gehirnchaos, welches die letzten zehn Jahre hinterlassen hatten, derzeit beinahe ein Ding der Unmöglichkeit. Einen übergeordneten, spirituellen Sinn in all den Verletzungen und Ungerechtigkeiten zu sehen, die ihm widerfahren waren und die er entgegenzunehmen und zu erdulden hatte, fiel Sebastian äusserst schwer.
Aber wenn er  sich wirklich wieder auf den richtigen Weg, den wahren Pfad der Sinnfindung, den Weg der Liebe begeben wollte, dann – und das leuchtete ihm ein -, dann musste er tatsächlich versuchen, mit seiner jüngsten Vergangenheit abzuschliessen oder etwas milder ausgedrückt: dann musste er das an ihm nagende Negative definitiv und endgültig loslassen. Er musste den Egoisten ziehen lassen und versuchen, ihm definitiv abzusagen. Er durfte dem Dunklen, dem Negativen und vor allem seinen martialischen Gedanken nicht mehr zur Verfügung stehen.
Hatte sein bisheriges Leben ihn wirklich nur aufgefressen und zerstört? Hatte er aus all den Erfahrungen nichts gelernt? Hatte er sich in seinem Leben nicht weiterentwickelt? Hatte das von Gott verordnete Fegefeuer nichts bewirkt? Verharrte  er in seiner spirituellen Entwicklung nach 67 Jahren nach wie vor  - oder gar wieder - auf dem Stand eines Fegefeuer-Foetus?
Nein, definitiv nicht. Er konnte doch auch auf manches stolz sein, das er in seinem Leben erreicht hatte. Eine Ehe, die sämtliche Höhen und Tiefen überlebt hatte. Zwei gesunde Kinder, ein Eigenheim und einen familieneigenen, abbezahlten, recht komfortablen rollenden Untersatz. Er hatte viele kreative Ideen skizziert und die Chance gehabt, ein paar namhafte, für die meisten Aussenstehenden „nicht realisierbare“ Vorhaben realisieren können. Ein paar Projekte im Kanton, ein paar in der Region und etliche in seiner Wohngemeinde.
Doch, er hatte Spuren hinterlassen, einmal dünnere, einmal dickere, manchmal äusserst geradlinige, manchmal auch etwas flattrige und kurvige, wo er Leitplanken brauchte. Zeitweise verlor er gar die Orientierung, aber er fand die Spur immer wieder, manchmal auch über unbequeme, garstige Umwege.
 
 
Die Frage nach dem Sinn des Lebens
 
Der Sinn des Lebens – da war sich Sebastian sicher - muss etwas Positives sein. Etwas, das einem nicht in den Schoss fällt, das man suchen muss, wahrscheinlich ein Leben lang. Etwas, das einem würdig macht zu etwas, das wir nicht greifen, uns nicht vorstellen, uns nicht mal geistig ausmalen können. Wir kennen das Ziel nicht ganz und den Weg erahnen wir, wenn überhaupt, nur schemen- oder gar schleierhaft.
Sebastian war sich ziemlich sicher, dass jeder Mensch im Leben eine höhere Aufgabe hat. Welches diese Aufgabe ist, ist nicht immer einfach zu erkennen. Sebastian kam zum Schluss, dass die Sinnfrage in der Regel eine sich stets wandelnde Angelegenheit ist, eine lebenslange Suche. Die Lebensinhalte und Prioritäten sind einem steten Wandel unterworfen. Sinn des Lebens könnte sein, den eigenen Atem und den Atem des Lebens zu spüren und zu geniessen; wissentlich und willentlich die körpereigenen Kräfte zu aktivieren und zu kultivieren und das Gute in sich zu hegen und zu pflegen mit dem Ziel, zum Göttlichen zu gelangen.
Das Leben passiert einfach. Und plötzlich ist es passé. Vergangen, vorüber, vorbei! Um zu Gott zu gelangen, braucht es einen Lebenssinn, ein Lebensmuster und im ausgereiften Alter eine Lebensphilosophie.
Das Ziel ist vermutlich ein Zustand, der über unsere irdischen Gefühle nicht wahrnehmbar ist. Konnte Sebastian deshalb bisher mit dem Wort „Himmel“ immer noch recht wenig anfangen?
Das Problem, das ihn jedoch am meisten beschäftigte, war die Frage, wie man einem Baby, einem jungen Menschen, einem ausgewachsenen Individuum mit ganz unterschiedlichen Erfahrungen, anders aufgebauten Werten und verschiedener Herkunft seine Ansichten, seinen persönlichen Weg zur Sinnfindung näher bringen konnte.

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Die schleichende Läuterung
 
Sebastian sass auf der alten Lotterbank beim Deppenplatz und betrachtete seine geliebte Knorz-Eiche. Sie hatte doch ziemlich an äusserer Attraktivität eingebüsst. Der Sturm Balthasar hatte ihr im letzten Jahr extrem zugesetzt. Sie hatte etliche ihrer schönsten Äste verloren. Vielleicht waren die Prunkstücke der Eiche auch die bruchanfälligsten! Sich nur an der Sonne zu sonnen, sich nur präsentieren zu wollen, kann bisweilen sehr gefährlich sein. Aber sie stand immer noch da, etwas lädiert zwar, aber stolz und majestätisch, wie ihm vorkam.
Balthasar hingegen hatte ausgeblasen, hatte seine Kraft verloren. Nicht mal ein Hauch kam mehr von ihm. Hatte auch Sebastian ausgeblasen? Hatte auch er keine Puste mehr? War auch seine Zeit abgelaufen; die Sturm und Drang-Periode zu Ende? Was hatte er verwüstet? Seine Sturmandrohung in den letzten beinahe zwei Jahren war gewaltig, aber das Ganze hielt sich doch einigermassen in Grenzen.
Von der ganzen Menschheit waren ihm nur zwei Menschen nachhaltig ihn die Quere gekommen und er hatte sie beinahe dahin gerafft. Und dies erst noch auf moderat humane, gewaltfreie Art. Sebastian dachte in Dankbarkeit an die beiden letzten Begegnungen mit der Knorz-Eiche. Sie hatte recht behalten, als sie ihm den Dialog verweigerte und damit seinen aktiv-mörderischen Tatendrang entscheidend bremste.
 
Ich bin zu schnell ruchlos und lästerlich, aber gottlob rechtzeitig geläutert worden, dachte er. Auch Kasser und Hartmann waren vom Leben gebeutelt und höchstwahrscheinlich auch irgendwo und irgendwann nachhaltig verletzt worden. Ihr Pech und ihr Verhängnis war, dass sie Sebastian’s Lebensträumen und Interessen entgegen gelebt und gewirkt hatten. In einem spontanen Anflug von Barmherzigkeit bat Sebastian Hartmann’s Seele um Verzeihung und wünschte Kasser, dass er seinen Seelenfrieden wieder finden und seine verdiente Pension geniessen könne. Er umarmte die Eiche, bedankte sich und wünschte auch ihr auf ihrem letzten Lebensweg von Herzen alles Gute.
 
In den nächsten Tagen suchte Sebastian öfters den Dialog mit Gott. Aber dieser verweigerte ihm wohlwissend das Gespräch. Er spiegelte nur Sebastian’s bisheriges Leben. Er machte ihm bewusst, dass er sich bis zuletzt dem Sinn des irdischen Daseins verwehrt hatte. Er hielt ihm den Spiegel hin, offen und klar, ohne falsche Rücksicht. Er versuchte ihm damit zu erklären, dass er keine Feinde um sich hatte, wie er bisher meinte, sondern nur anders Denkende. Wer sich ändern müsse sei er; nur er, niemand Anderer! Gott machte ihm auch klar, dass er die finale Reifeprüfung, um die es letztendlich im Leben geht, noch nicht geschafft hatte.
 
Und Sebastian wusste nun endgültig, was er zu tun hatte. Er begriff, dass seine Rachegelüste und Mordszenarien nichts anderes waren als das Echo auf seine miesen, ätzenden Gedanken und seine fixe Idee, Richter und Henker gleichzeitig spielen zu wollen. Sein eigener Hass hatte ihn beinahe aufgefressen. Er hatte in den letzten beiden Jahren die Liebe aus seinem Leben verbannt. Er hatte seine tolle Familie – Caroline, Rihanna und Noemi -vergessen und verdorren lassen; er hatte sein ihm freundschaftlich verbundenes Umfeld aufs Sträflichste vernachlässigt.
 
Am ersten schönen, warmen Frühlingsabend fand er endlich die Kraft, mit seiner jüngsten Geschichte, mit seinem Lebensfrust endgültig auch symbolisch abzuschliessen. In Erinnerung an seinen jüngsten Traum auf dem Heigriswiler Aussichtspunkt grub er in seinem Garten ein tiefes Erdloch, entsorgte dann geistig sein jüngstes Lebenskapitel und deckte das Ganze fein säuberlich mit der Erde wieder zu, nicht ohne den Humus mit der Schaufel vorsichtshalber noch etwas fester angeklopft zu haben. Zum Schluss sprach er sein neuestes Intimgebet:
 
„Ich bin Liebe, Kraft und Energie. Ich habe eine offene, liebliche, männliche Ausstrahlung. Ich bin ruhig und gelassen. Ich bin bei Gott und Gott ist bei mir. Gott begleitet mich in meinem ganzen restlichen Leben. Er führt mich zu Glück und zu Erfolg, er führt mich zu Wohlstand und zu Zufriedenheit. Ich liebe Gott und Gott liebt mich.“ und fügte an: „Das Kapitel ist abgeschlossen, es ist vollendet, endgültig. Ich danke von ganzem Herzen! Amen.“ 

 
 
Der genussvolle Epilog
 
In den letzten Wochen war Sebastian innerlich gereift. Er war nun endlich nach langen Jahren bereit, die Früchte seiner Niederlagen zu ernten. Er machte sich auf den Weg ins Ferienhaus und dort angekommen genoss er auf seinem idyllischen Sitzplatz die Ruhe und die Kraft der Natur. Er hörte wieder mal die Vögel zwitschern und schaute in dankbarer Ruhe den Kühen beim Grasen zu. Er war mit sich und mit Gott im Reinen. Das Leben ist geheimnisvoll, dachte er. Es gibt sich niemals preis.
 
Als die Sonne langsam unterging, kam er in eine ganz besondere, genussfrohe Stimmung. Rein aus einer Laune heraus holte er sich aus der Vitrine im Wohnesszimmer ein altes, erlesenes Rotweinglas mit goldenem Rand und vielen kleinen zarten, goldig eingefrästen Tiermotiven. Ganz allein und in aller Ruhe trank er dann ein Glas eines höchst kostbaren Weines aus der World Collection – Sélection du Monde: einen Cabernet Shiraz 2005, aus der Domaine Cittering Valley in Australien. Er genoss ihn sehr. Und mit dem zweiten Glas feierte er die Maturität L, die Maturität des Lebens, die er soeben bestanden hatte.Sebastian fühlte sich so gut wie schon lange nicht mehr. Er freute sich auf das feine Nachtessen, das ihm seine Frau versprochen hatte und auf das feuchte Dessert, zu dem er sie verführen wollte.

 

Und plötzlich schaute ich zurück
 
Zwischen dieser Jugendfoto und der Drucklegung des Buchs liegen geschätzte 65 Jahre, ein Erwerbsleben mit Höhen und Tiefen und teilweise mit schweren körperlichen und  seelischen Abnützungserscheinungen. Ich schaute zurück: Frühjugendliche erwartungsvolle Jahre.
 
Eine magersüchtige, angepasste und unausgelebte Pubertät. Eine verschlafene, antiautoritäre, nichtsnutzige Studienzeit. Die Gründung einer Familie und damit der Beginn der Stabilität. Eine karrieregeile Militärzeit, eine berufliche Aufholjagd, grosse gesellschaftliche Anerkennung, mit politisch interessanten Mandaten.Dann das Bedürfnis, anerkannt und geliebt zu werden und der blödsinnige innere Zwang, überall und jederzeit zu allem ja zu sagen. Als Dank dafür die Erfahrung des gesellschaftlichen Exils. Tiefe innere Verletzungen und gravierende gesundheitliche Probleme. Männliche Verdrängungsmechanismen, Wahrnehmungsstörungen und der Hang zu egomanem Denken. Endlich die Pensionierung, allen Ballast abwerfen. Das Erwerbsrennen ist vorbei, durchatmen.
Ich stehe nur noch da, bockstill, unfähig wieder einen Schritt  nach vorn zu gehen, quasi Hirn beifuss!
Wo ist meine Kreativität geblieben, wo mein Pioniergeist?

„Mach was!“, höre ich meine innere Stimme sagen, "Schreib ein zweites Buch!" 

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    ​Aus einem verzerrten Leben gegriffen
     
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    Der im Jahre 2018 entstandene Roman ist etwas zwischen Realität und Fiktion, etwas zwischen hätte sein können und krankhafter Wahnvorstellung, 
    kurz eine total erpotterte Geschichte. 
    Etwas zwischen verkümmertem, abgestorbenem Menschsein und ersehnter Rückkehr, etwas zwischen Kriminalität und Religiosität,
    kurz: ein Irrweg auf dem langen Weg zurück zu den eigenen Wurzeln.
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